52 Sitzung vom 29. Juni 1910 327 nicht ſo raſch vorgehen können wie Sie. Wir wollen nicht zu viel übernehmen, weil wir fürchten, daß wir uns dabei übernehmen könnten. Es handelt ſich nicht um eine gewaltſame Zurückdämmung not⸗ wendiger Fortſchritte, wie der Herr Referent meinte, die wir nicht mitmachen wollen, ſondern es handelt ſich darum, langſamer, erſt nachdem wir die großen Aufgaben, die jetzt ſchon in der Bear⸗ beitung ſind, erledigt haben, und nachdem wir die finanziellen Konſequenzen gezogen haben, an neue große, uns entgegentretende Pläne heran⸗ zugehen. Wir wollen, wie Sie, meine Herren von der Mehrheit, vor allen Dingen Erhaltung und Stärkung unſerer Selbſtverwaltung. Eine ſtädtiſche Verwaltung kann aber nur auf klarer und geſunder finanzieller Grundlage ihre Selbſtändigkeit ausüben. Ich erhebe deshalb in letzter Stunde die warnende Stimme und rufe Ihnen zu: videant consules — haben Sie acht, meine Herren, daß die Gemeinde 245 Ihren Beſchluß nicht unſäglichen Schaden erleidet! Stadtrat und Kämmerer Scholtz: Meine Herren, die Worte des Herrn Vorredners zwingen mich, gleich zu Beginn der Beratung über die neue Anleihe doch auf einige ſeiner Ausführungen ein⸗ zugehen. Seine Worte ſtehen in ſo kraſſem Gegen⸗ ſatz zu dem, was wir von dem Referenten des Ausſchuſſes gehört haben, daß man ſich wirklich fragen muß: welcher von den beiden Vorrednern hat Recht? Der, der in weiſer Vorausſicht und in einer vernünftigen Perſpektive diejenigen For⸗ derungen hier feſtgeſtellt hat, die der Ausſchuß Ihnen anſinnt, oder der, der bei allen Forderungen — abgeſehen vom Gemeindefriedhof, auf dem man ſich begraben laſſen kann — (Heiterkeit) ganz einfach erklärt: halt! Der Herr Vorredner hat geſagt, 130 bis 140% in den nächſten Jahren müſſen kommen, wenn Sie die 40 Millionen be⸗ willigen. Zunächſt iſt das inſofern wohl nicht ganz zutreffend, als noch nicht die allernächſten Jahre diejenigen ſein werden, die von den 2 Millionen, von denen er als Belaſtung geſprochen hat, ge⸗ troffen werden würden. Der Herr Vorredner ver⸗ gißt vollkommen, daß ein großer Teil dieſer 2 Millionen überhaupt den Etat gar nichts angeht, inſofern nichts angeht, als dieſe 2 Millionen zum zum Teil von gewerblichen Inſtituten oder von Inſtituten aufgebracht werden, die ihre Amor⸗ tiſation und Verzinſung ſelbſt tragen. Er rechnet lediglich damit, daß dieſe 2 Millionen den all⸗ gemeinen Etat belaſten werden! Der Herr Vorredner hat ferner geſagt: ſchaut nach außerhalb, ſeht zu, wie das Verhältnis in anderen Großſtädten iſt, da iſt es viel günſtiger als bei euch! Ja, meine Herren, ſelbſt wenn die Verhältniſſe günſtiger ſein ſollten, wofür ich zunächſt noch den Beweis haben möchte, glauben Sie etwa, daß dann dieſe anderen Städte ſo gewirtſchaftet haben, wie der Herr Vorredner Ihnen anempfohlen hat? Dieſe anderen Städte haben in weiſer Vorausſicht ſtets diejenigen Summen ſich bewilligen laſſen, die ſie nötig hatten, um alle die Inſtitutionen zu treffen, die erforderlich ſind, damit ein geſundes Gemeindeleben wirklich beſtehen kann. Was will der Herr Vorredner? Der Herr Vor⸗ redner will Summen für die werbenden Anſtalten und für den Friedhof bewilligen. Bei den werbenden An⸗ ſtalten hat er ſogar geſagt: ſelbſt nur dann, wenn die Uberſchüſſe, die ſie bringen, zur Deckung der Schulden zu verwenden ſind. Ja, meine Herren, wozu nimmt man denn im heutigen praktiſchen Leben ſämtliche Erträge eines Werkes? Zur Deckung ſeiner Schulden — oder wozu ſonſt? Der vorſichtige Kaufmann, der im Deutſchen Reich doch immer noch bewieſen hat, datz er vorwärts kommt, verwendet einen Teil ſeiner Erträge, denjenigen, den er nach den Grundſätzen einer ver⸗ nünftigen Abſchreibung nehmen muß, zur Deckung der Schulden. Wir haben gerade dieſen Teil im Ausſchuſſe für die Anleihe ſehr eingehend durch⸗ beraten, und der Stadtverordnetenausſchuß hat ſich davon überzeugt, daß gerade nach dieſer Richtung hin bei unſeren Werken, ſowohl beim Elektrizitätswerk als insbeſondere bei der Gasanſtalt, ſehr vorſichtige, ſehr vernünflige Grundſätze obwalten. Daher iſt es ausgeſchloſſen, daß das eintreten kann, was der Herr Vorredner ſagt, daß, wenn ſo weiter gewirt⸗ ſchaftet wird, das Einkommen aus unſeren wer⸗ benden Anſtalten immer weiter ſinken muß, weil dieſe Anſtalten immer mehr verſchulden. Ich habe ihn wenigſtens ſo verſtanden. Ich halte dieſe Deduktion, die er gemacht hat, für ſo falſch, daß ich geglaubt habe, ihr ſofort entgegentreten zu müſſen. Das ſind aber die einzigen Ausgaben, für die der Herr Vorredner glaubt ſeinen Wählern gegen⸗ über irgendwie eintreten zu können. Nun möchte ich aber doch bitten, zu ſagen, wo er denn die anderen Wähler, die doch einen großen Teil der Bürgerſchaft bilden, gelaſſen hat, deren Wünſche er nicht berückſichtigen will. Zunächſt den Haus⸗ bau. Alle diejenigen Herren, die mit dem Grund⸗ erwerb zu tun haben, werden ihm für ſeine An⸗ ſchauungen wenig Dank wiſſen; denn er ſtreicht ihnen alle die Anlagen, die zur Entwicklung der Stadt not⸗ wendig ſind, die notwendig ſind für die Kanaliſation, für Straßenregulierungen, für Brückenbau. Die Konſequenz iſt, daß der Grund und Boden in ſeiner Entwicklung ſtillſtehen muß. Weiter: er will nichts für andere Anſtalten bewilligen, die gefordert werden, z. B. für Ladeſtraßen, für Einrichtungen, die notwendig ſind, um Handel und Gewerbe in der Stadt zu heben und es dadurch der Bürgerſchaft zu ermöglichen, wiederum Mittel zu erwerben und in der Lage zu ſein, die Steuern zu bezahlen. Drittens ſtreicht er ſelbſtverſtändlich alles dasjenige, was direkt Geld koſtet, z. B. höhere Lehranſtalten. Wer ſoll denn nach Charlottenburg von einer zahlen⸗ den Bürgerſchaft hinziehen, wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben iſt, ſeine Kinder hier unter⸗ zubringen, ſeine Familie an einem Ort wohnen zu laſſen, wo ſie für die Bildung und für andere Zwecke des Lebens wirklich etwas hat? Ich gehe gar nicht auf alle die Dinge ein, die noch weiter in der Anleihe vorgeſehen ſind und not⸗ wendig mit einer modernen Stadtverwaltung zu⸗ ſammenhängen, wie Krankenhaus uſw; ich will auch gar nicht die Badeanſtalt ſtreifen, die zur Not⸗ wendigkeit des Lebens auch für die Bürgerſchaſt doch unzweifelhaft gehört und immer wieder gefordert wird. Für alle dieſe Forderungen hat der Herr Vorredner kein Wort übrig. Er ſagi ganz einfach: ſtreichen und ſehen Sie zu, daß Sie um Gottes willen ja nicht weitere Schulden machen. Meine Herren, wenn wir von dieſem Geſichts⸗ punkt aus vorgehen wollen, dann werden wir aller⸗ dings dahin kommen, daß die 130%, die der Herr