366 er genötigt, ſein Vieh abzuſchlachten, Abſchlachtung noch nicht reif iſt, um ſo ſelber zu einem bedeutenden Kapitalverluſt zu kommen, aber auch die Hoffnung der Konſumenten zu ver⸗ nichten, die darauf gehofft haben, daß dieſes Vieh ihnen im nächſten Jahre als ſchlachtreifes Vieh geliefert wird. Darin liegt ein Grund der ſchlechten Viehproduktion. Wir ſehen es in dieſem Jahre: das letzte Jahr war ein ſchlechtes Futter⸗ jahr, infolgedeſſen kein Vieh in dieſem Jahre. Nun aber weiter: worauf iſt denn die Größe des Beſtandes an Vieh und Futtermitteln überhaupt baſiert? Das iſt unſere Ackerbaufläche. Die Acker⸗ baufläche hat ſeit dem Anfang des 19ten Jahr⸗ hunderts in Preußen um etwa 43% zugenommen. Infolge der verbeſſerten land wirtſchaftlichen Me⸗ thoden war es möglich, verhältnismäßig viel Od⸗ ländereien z. B. durch künſtliche Düngemittel zu einer gewiſſen Blüte zu bringen und rentabel zu machen. Dieſe Veränderung hat natürlich auch weite Weideländereien betroffen; aber ſie war ſo lange nicht fühlbar, als deren Ausfall durch die ſonſt erhöhte allgemeine Produktion gedeckt werden konnte. Dieſe Bewegung — und ich benutze hier die dankenswerte Schrift von Lujo Brentano über die deutſchen Getreidezölle — war mit dem Jahre 1908 erſchöpft; da gab es kein Land mehr, das man noch neu kultuvieren konnte, es trat eine rückläufige Bewegung ein, und Brentano rechnet aus, daß pro Kopf der Bevölkerung die bebaubare Fläche um 9,33 ha. 8ee, Aalttiri,5 Wenn Sie das mit 60 Millionen multiplizieren, ſö werden Sie eine bedeukende Zahl herausbekommen. Warum iſt die bebaubare Fläche zurückgegangen? Durch die fortſchreitende Induſtrialiſierung unſeres Vaterlandes und durch das Wachstum unſerer Städte. Wir brauchen ſelbſt nur an die Grenzen unſerer Stadt und der Nachbargemeinden hinauszu⸗ gehen: Sie werden überall Flächen finden, die vor 20 Jahren noch als Weideland und Ackerfläche dienten. Wie hier, iſt es auch in kleinen Städten gegangen, insbeſondere im Weſten: überall finden Sie Flächen, über die früher der Pflug hinwegging; wo Ochſen ſich und Schafe tummelten, da finden Sie heute Fabriken und Lagerplätze. Daß dieſe Umwandlung nicht ſpurlos am Wirtſchaftsleben vorübergehen kann, iſt wohl klar, insbeſondere da naturgemäß die weniger guten Ackergründe, d. h. die, die zur Viehzucht dienen, zunächſt in Angriff genommen wurden. Dieſes ſelbe Moment der Induſtrialiſierung hat auf der anderen Seite die Konſumtion an Fleiſch erhöht. Auch aus dieſem Werke entnehme ich, daß ſich ſehr leicht ſtatiſtiſch nachweiſen läßt, daß der induſtrielle Arbeiter, der ſchwer arbeiten muß, mit großer Entſchlußfähigkeit, hin und wieder ſchwerer, hin und wieder auch leichter, ſehr viel mehr dazu neigt, ſeinem Körper Fleiſchnahrung zu⸗ zuwenden, als Vegetabilien. Auf dieſe Weiſe iſt es gekommen, daß wir in den Städten 53 kg Konſum an Fleiſch pro Kopf und Jahr haben, während er auf dem Lande nur 35 Ig iſt. Im Durchſchnitt konſumiert der Deutſche heute 44 kg Fleiſch pro Jahr; Deutſchland bleibt damit hinter England, alſo dem größten Fleiſch konſumierenden Lande in Europa, nur noch um 4 kg pro Kopf zurück. Als ich als junger Student der Medizin zuerſt mit phyſiologiſchen Studien begann, wurde uns noch beigebracht, daß der Stickſtoffhaushalt des Eng⸗ länders und des Deutſchen weſentlich von einander Sitzung vom 14. das zur verſchieden wären. September 1910 Bei dieſen Zahlen wird man heute dieſe Regel auch revidieren müſſen; nur um 4 kg ſind wir von England entfernt, und je mehr die ſtädtiſche Bevölkerung vorſchreitet, um ſo höher wird der Konſum an Fleiſch pro Kopf der Be⸗ völkerung werden. Auf der einen Seite ſteigender Konſum, auf der anderen Seite Verminderung der Produktion — daraus ergibt ſich der Schluß: Deutſchland iſt, wie ich behaupte, heute nicht mehr in der Lage, den ge⸗ ſteigerten Konſum aus eigener Produktion zu decken, ſondern es iſt, wie andere Länder, z. B. England, und wird in Zukunft noch viel mehr dauernd darauf angewieſen ſein, aus dem Aus⸗ lande Fleiſch und Vieh zu beziehen. Meine Herren, das iſt nun glücklicherweiſe auch möglich; dieſe Arbeitsteilung zwiſchen den in⸗ duſtriellen Ländern und den Ackerbauländern ließe ſich ſehr leicht durchführen, jene Arbeitsteilung, die überhaupt das Prinzip eines jeden wirtſchaftlichen Fortſchritts bedeutet. Aber wir können ſie nicht durchführen; denn um unſere Grenzen hat man eine chineſiſche Mauer gezogen. Dieſe chineſiſche Mauer, die ſo gut wie nichts durchläßt, iſt ein künſtliches Syſtem von Sperren, die eingeführt worden ſind — die ich Ihnen gar nicht alle nennen kann; denn ſie ſind zu viele. Es liegt mir hier ein Veterinärkalender vom vorigen Jahre vor, darin ſind ſie kurz angeführt: nahezu jedes europäiſche Land, mit Ausnahme von San Marino und dem Fürſtentum Lichtenſtein, iſt genannt, (Heiterkeit) und jedes Land hat ſeine beſonderen Beſtimmungen. Dieſe Beſtimmungen ſind zum Teil Miniſterialver⸗ ordnungen, zum Teil Geſetze, zum Teil noch Ver⸗ ordnungen beſonderer Natur. Sie mögen in dem Augenblick, als ſie gegeben wurden, berechtigt ge⸗ weſen ſein; aber heute haben ſie, wie ich weiter zeigen werde, ihren Sinn verloren. Gegeben ſind ſie aus ſogenannten vieh⸗ hygieniſchen Gründen. Man behauptet, wenn die Grenzen aufgemacht würden, trete Verſeuchung unſeres Viehſtandes ein, und dann würde die Fleiſchnot noch viel größer ſein. Nun, meine Herren, wenn ſo vorgegangen wird, wie in unſerem Antrage geſagt wird, daß nämlich das Vieh von der Grenze in plombierten Wagen gleich an die Schlachtorte zu ſenden iſt und dort abgeſchlachtet wird, mit anderem Vieh gar nicht in Berührung kommt — wenn ſo vorgegangen wird, fehlt eine jegliche Gefahr, und dann ſind dieſe Beſtimmungen über⸗ flüſſig. Zweitens ſind ſie aber gar nicht mehr paſſend. Denn der Geſundheitsunterſchied zwiſchen Deutſch⸗ land und den Nachbarländern iſt gar nicht mehr der, der er damals war, als die Beſtimmungen gegeben wurden. 3. B. iſt Dänemart, Holland heute genau ebenſo geſund wie wir. Allerdings in Rußland exiſtiert Maul⸗ und Klauenſeuche — aber in Deutſch⸗ land auch; Oſterreich iſt nicht frei von Schweine⸗ ſeuche — aber ein anderes Land weiſt ſie auch auf: nämlich Deutſchland, und das haben wir Char⸗ lottenburger gelegentlich unſerer Beratungen über die Dreiteilung und die Müllabfuhr ſehr deutlich erfahren! (Sehr richtig!) Alſo hier liegt kein Unterſchied. Aber nehmen wir an, die Abſperrung wäre vom hyugieniſchen Standpunkt notwendig; dann wäre unſerer Regierung der Vorwurf zu machen