Sitzung vom 19. November 1910 Da dieſe Aufrufe u. a. die Unterſchriften dreier zurzeit amtierenden Stadtverordneten tragen, können ſie Beunruhigung zum Nach⸗ teil des ſtädtiſchen Anſehens hervorrrufen. Wir fragen deshalb den Magiſtrat an, ob er bereit iſt, eine Aufklärung über die Finanz⸗ lage zu geben. Ich richte an den Magiſtrat die Frage, ob und wann er die Anfrage beantworten will. Oberbürgermeiſter Schuſtehrus: Der Ma⸗ giſtrat iſt bereit, die Anfrage zu beantworten, und zwar ſofort. Vorſteher Kaufmann: Ich erteile dann Herrn Guttmann das Wort zur Begründung. Stadtv. Hirſch (zur Geſchäftsordnung): Meine Herren, ich halte es für vertehrt und geſchäfts⸗ ordnungswidrig, daß, wenn eine Interpellation eingebracht wird, zu deren Beantwortung ſich der Magiſtrat ſofort bereit erklärt, ohne weiteres, ohne Rückſicht auf die übrigen Punkte der Tagesordnung die Interpellation zur Debatte geſtellt wird. Ich meine, wir müſſen zunächſt darüber Beſchluß faſſen, ob die Stadtverordnetenverſammlung der Anſicht iſt, daß die Interpellation heute zur Beratung kommt, und dann, an welcher Stelle der Tagesordnung ſie beraten werden ſoll. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Vorſteher Kaufmann: Ich erlaube mir, Herrn Kollegen Hirſch darauf aufmerkſam zu machen, daß die Anfragen an den Magiſtrat in § 25 und 26 unſerer Geſchäftsordnung behandelt ſind. § 25 lautet: Selbſtändige Anfragen an den Magiſtrat (Interpellationen) müſſen beſtimmt formu⸗ liert und von 5 Mitgliedern unterzeichnet dem Vorſteher überreicht werden, welcher ſie zur Kenntnis der Stadtverordneten bringt, dem Magiſtrat mitteilt und denſelben zur Er⸗ klärung darüber auffordert, ob und wann er die Anfrage beantworten werde. Vor der Beantwortung wird dem Frageſteller zur näheren Begründung das Wort erteilt. Nach der Faſſung dieſes Paragraphen iſt die bis⸗ herige Handhabung der Geſchäfte ſtets ſo geweſen, daß, wenn der Magiſtrat ſich zur ſofortigen Beant⸗ wortung bereit erklärt, der Frageſteller und der Magiſtrat gleich das Wort bekommen hat, oder wenn der Magiſtrat erklärt: Ich bitte, die Anfrage in der üblichen Weiſe zu behandeln, dann iſt die Anfrage erſt auf die Tagesordnung geſetzt worden, nachdem eine Mitteilung des Magiſtrats, wann er zur Beantwortung bereit ſei, eingegangen war. Es iſt hier alſo meiner Anſicht nach ganz korrekt ge⸗ ſchäftsordnungsmäßig verfahren, daß ich, da der Magiſtrat ſich bereit erklärt, ſofort zu antworten, auch ſofort dem Interpellanten das Wort zur Be⸗ gründung erteile und hierauf dem Magiſtrat zur Beantwortung. Stadtv. Hirſch (zur Geſchäftsordnung): Ich muß der Auffaſſung des Herrn Vorſtehers wider⸗ ſprechen. Zunächſt iſt nicht immer ſo verfahren worden. Aber ſelbſt wenn immer ſo verfahren worden wäre und niemand aus der Stadtver⸗ ordnetenverſammlnug widerſprochen hätte, ſo wäre das kein Beweis, daß dieſes Verfahren richtig iſt. 401 Nun enthält zweifellos unſere Geſchäfts⸗ ordnung eine Lücke: es iſt kein Wort davon geſagt, daß auch Interpellationen mindeſtens zwei ſitzungs⸗ freie Tage in den Händen der Mitglieder der Stact⸗ verordnetenverſammlung ſein müſſen. In derganzen Geſchäftsordnung iſt nur davon die Rede, daß Vor⸗ lagen des Magiſtrats und Anträge aus der Mitte der Verſammlung den Stadtverordneten ſo zeitig mitgeteilt werden müſſen, daß zwei ſitzungsfreie Tage dazwiſchen ſind. Aber, meine Herren, es iſt doch ganz ſelbſtverſtändlich, daß auch Interpella⸗ tionen ſo rechtzeitig zur Kenntnis der Mitglieder der Verſammlung gebracht werden müſſſen, daß ſie dazu Stellung nehmen können. Das iſt in dieſem Fall nicht geſchehen. Den Fraktionsvorſitzenden iſt allerdings durch den Herrn Vorſitzenden der liberalen Fraktion der Wortlaut der Interpellation mitgeteilt worden; aber ich glaube, die meiſten Mitglieder der Verſammlung haben den Wortlaut der Interpellation erſt jetzt eben erfahren. (Widerſpruch bei der vereinigten alten Fraktion.) — Nun gut, Sie haben ſie ja eingebracht; Sie werden doch nicht unterſchreiben, was Sie nicht vorher geleſen haben; Ihr Name ſteht doch unter der Interpellation. Den übrigen Mitgliedern — ſie iſt ja eingebracht von vier Fünfteln der Ver⸗ ſammlung — iſt ſie aber nicht in ihrem Wortlaut bekannt geweſen, und es muß ihnen doch Zeit gegeben werden, um ſich über die Interpellation ſelbſt ſchlüſſig zu werden. Wohin ſoll es denn führen, wenn mindeſtens 5 Mitglieder der Verſammlung das Recht haben, eine Interpellation einzubringen, die ſofort zur Beſprechung geſtellt wird, wenn der Magiſtrat ſich zur Beantwortung bereit erklärt? Dann brauchen wir gar keine Tagesordnungen aufzuſtellen, dann iſt es vollkommen überflüſſig, vorher mitzuteilen, was beraten werden ſoll; es tun ſich einfach 5 Herren zuſammen und ſagen: wir bringen hinter jedem Punkt eine Interpellation ein — und wir können die Tagesordnung nicht erledigen. Es kommt aber noch ein beſonderer Grund hinzu. Es handelt ſich darum, daß heute auf der Tagesordnung endlich einmal Petitionen von Mit⸗ bürgern ſtehen, Petitionen, die teilweiſe bereits beinahe vor Jahresfriſt eingebracht ſind, und zu deren Beratung die Stadtverordnetenverſammlung bisher noch immer keine Zeit gefunden hat. Wohin ſoll es denn führen, wenn jetzt durch die Behandlung einer Interpellation ſo wichtige Dinge wieder ab⸗ geſetzt werden, ſo daß ſchließlich das Petitionsrecht der Charlottenburger Einwohner nur auf dem Papier ſteht, da die Stadtverordnetenverſammlung niemals Zeit findet, ſich mit den Petitionen aus den Kreiſen der Bürger zu beſchäftigen? Stadtv. Dr. Liepmann: Ganz dieſelben Be⸗ denken, die Herr Kollege Hirſch Ihnen klargemacht hat, meine Kerren, hatte ich auch. (Heiterkeit.) Ich hatte auch das Bedenken, daß jedenfalls der Herr Stadtverordnetenvorſteher doch nicht will⸗ kürlich, oder wie er es will, eine einzuſchiebende Interpellation an die Stelle ſetzen kann, wo er glaubt, daß ſief am beſten hineinkommt, ſondern daß mindeſtens die Verſammlung darüber zu ent⸗ ſcheiden hat. 2 Borſteher Kaufmann (unterbrechend): Ich möchte jedenfalls dem Herrn Redner ſagen, daß ich