Sitzung vom 9. November 1910 Stadtv. Meyer (fortfahrend): Meine Herren, ich kehre zu der eigentlichen Finanzlage zurück, zu deren Löſung freilich Herr Stadtv. Liepmann ſo wenig poſitive Vorſchläge gemacht hat, daß ich da⸗ rüber nicht viel zu ſagen habe und bald fertig ſein werde. Das war ja das Bezeichnendſte an der Rede des Herrn Stadtv. Dr Liepmann, daß er erklärte: er denke gar nicht daran, Vorſchläge zu machen, denn er wolle nicht dieſen oder jenen ſeiner An⸗ hänger ſtutzig machen. (Hört, hört! und Heiterkeit.) Meine Herren, in dieſen Worten finden Sie ein kommunalpolitiſches Programm, welches nicht da⸗ rauf ausgeht, unſere Finanzlage zu verbeſſern, ſondern welchem aus agitatoriſchen Gründen die Herabſetzung unſres finanziellen Anſehens Selbſt⸗ zweck iſt. Nachher hat ja allerdings gelegentlich Herr Stadtv. Dr Liepmann ſo etwas wie einen poſitiven Vorſchlag gemacht, als er ſagte, es wäre richtiger, die Steuern zu erhöhen, als Anleiheſchulden zu machen. Ich freue mich, daß ich darauf im Na⸗ men meiner Freunde ſagen kann: auf dieſen Weg uns locken zu laſſen, daran denken wir gar nicht. (Stadtv. Dr Liepmann: Habe ich nie geſagt!) Wir denten uicht daran, unfſere Einkommenſteuer zuſchläge zu er⸗ höhen, ſolange die andern in Be⸗ tracht kommenden Kommunen nicht über 10 0 % gehen, wie das Herr Stadt⸗ verordnetenvorſteher Kaufmann bereits in ſeiner Etatsrede erklärt hat. Wir beabſichtigen aber auch nicht, was man im Wahlkampf ſo gern von uns behauptet hat, den Haus⸗ und Grundbeſitz noch weiter zu be⸗ la ſt e n; denn wir haben deutlich zum Ausdruck gebracht, daß wir keine Mehrbelaſtung des Haus⸗ und Grundbeſitzes wün⸗ ſchen, und dieſes Wort, welches wir egeben haben, werden wir zu 941ten wiſſen. (Bravo!) Wenn Herr Stadtv. Dr Liepmann zum Schluß darauf hingewieſen hat, daß er keine kleine Gruppe vertritt, ſondern beinahe eben ſo viele Wähler hinter ſich hat wie wir, ſo beneide ich ihn nicht um die Mittel, mit welchen jene Wähler diesmal gewonnen worden ſind. Sie ſind gewonnen worden dadurch, daß man ihnen falſche Zahlen tendenziös gruppiert vor⸗ getragen hat in einem Zeitpunkt, in dem eine ordnungsmäßige Widerlegung nicht möglich war. Nachdem die Widerlegung jetzt authentiſch erfolgt iſt, vertrauen wir darauf, daß ſich künftig gegen derartige Angriffe auf die Stadt eine ſehr ſtarke Abwehrmajorität bilden wird, eine Partei, die hoffentlich — ich bin ſonſt kein Freund vom Unpolitiſchen — doch inſofern unpolitiſch ſein wird, als ſie verbunden ſein wird durch das Bewußt⸗ ſein der Bürgerpflicht. (Bravo! — Stadtv. Hirſch: Hurra!) Stadtv. Hirſch: Meine Herren, der bisherige Verlauf der Debatte hat klar erwieſen, was ſich wohl jeder bei der Einbringung der Interpellation ſagen mußte, daß wir heute nicht über die Finanz⸗ lage der Stadt reden würden, ſondern daß hier einige nachträgliche Wahlreden gehalten wurden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Trotz der Bemühungen des Herrn Vorſtehers hat es ja Herr Kollege Meyer fertig gebracht — ich ſehe ganz von dem Teil ſeiner Ausführungen ab, 431 der im Kriegervereinsſtil gehalten war —, hier eine Rede zu halten, die tatſächlich nichts anderes war als eine Wahlrede. (Stadtv. Dr Liepmann: Sehr richtig!) Ich werde ihm darin nicht folgen, möchte aber den Herrn Vorſteher bitten, falls ich etwa durch das böſe Beiſpiel des Herrn Vorredners angeſteckt werde, mich nicht gleich zu unterbrechen. (Heiterkeit.) Herr Kollege Liepmann ſchloß ſeine Rede damit, daß ſich ſeine Freunde, wenn ſie auch nur eine kleine Gruppe wären, die freie Kritit nicht nehmen laſſen würden. Ich muß ſagen, daß ich dieſen Ausſpruch billige. Aber das war eigentlich auch das einzige, was mir an ſeiner Rede gefallen hat. (Heiterkeit.) Niemand ſoll ſich das Recht der freien Kritik beſchränken laſſen, und ich glaube, wir in der Charlottenburger Stadtverordnetenverſammlung haben das auch von niemandem verlangt; wir haben jedem unſerer Mitbürger erlaubt, freie Kritik zu üben, ebenſo wie wir auch jedem einzelnen erlauben, von dem Rechte Gebrauch zu machen, ſich nach Möglichkeit zu blamieren. (Große Heiterkeit.) Meine Herren, meine Freunde ſind durchaus mit der Beſprechung der Interpellation einver⸗ ſtanden, nicht etwa, weil ſie es für unbedingt nötig halten, daß der Inhalt der Interpellaiton hier im Plenum zur Erörterung kommt, ſondern aus einem ganz anderen Grunde. Wir waren nämlich geſpannt auf die Auseinanderſetzungen zwiſchen den Vertretern der beiden bürgerlichen Richtungen, die jetzt wild aufeinander losſtürmen, weil der eine im Wahlkampf ſeine politiſchen An⸗ ſchauungen offen zur Schau getragen hat, während der andere ſie hübſch im Glasſpind verſteckt hat, die aber am nächſten Tage ſchon ſich wieder zu⸗ ſammenfinden, um gemeinſam gegen die Sozial⸗ demokratie loszugehen. Sie werden mir zugeben, daß das für uns als unbeteiligte Dritte eigentlich ein recht heiteres Schauſpiel iſt. Selbſtverſtändlich darf es nicht zur Gewohnheit werden, alle Flugblätter, die im Wahlkampf ver⸗ breitet werden, im Plenum der Stadtverordneten⸗ verſammlung zu erörtern. Wohin ſollte das führen, wenn man aus einzelnen Flugblättern irgendwelche Stellen herausſucht, Interpellationen zurecht⸗ drechſelt und den Magiſtrat anfragt, ob ihm be⸗ kannt iſt, daß das und das, was im Flugblatt geſtanden hat, eine Unwahrheit iſt! Meine Herren, dann hätten wir das ganze Jahr nur Interpella⸗ tionen zu verhandeln; denn was alles im Wahl⸗ kampf zuſammengelogen wird, (Sehr richtig! — Heiterkeit. — Stadtv. Dr. Crüger: Er ſpricht aus Erfahrung!) das läßt ſich kaum ſagen. Mir wird zugerufen: er ſpricht aus Erfahrung. Gewiß, meine Herren, ich habe die Erfahrung gemacht durch die Fülle der Flugblätter, die ich zu leſen bekommen habe. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Ich habe hier einen ganzen Poſten Flugblätter — ich könnte Ihnen noch mehr mitbringen —; es ſind Flugblätter von bürgerlicher Seite. Ich will Ihnen Proben geben, da Sie (zu den Liberalen) zu glauben ſcheinen, daß Sie im Wah kampfe keine Unwahrheit ſagen. Hier iſt ein Flugblatt, unter⸗ zeichnet von liberaler Seite, von liberalen Stadt⸗ verordneten, worin es heißt, die liberalen Kan⸗