Sitzung vom 17. April 1912 Stadtv. Lehmann: Meine Herren! In der Sitzung der gemiſchten Deputation hat auch der Ver⸗ treter der ſozialdemokratiſchen Fraktion für den Vor⸗ ſchlag des Magiſtrats, eine Familienzulage zu ge⸗ währen, geſtimmt. Er hat ſich damit einverſtanden erklärt unter ausdrücklicher Betonung und Wahrung des vom Kollegen Vogel und Genoſſen geſtellten und in der Verſammlung am 13. März behandelten An⸗ trages. Das heißt, er hat geſagt, daß er, da alle weitergehenden Anträge abgelehnt worden ſind, für den Antrag ſtimmt, es aber gern ſehen würde, wenn der Antrag Vogel angenommen würde. Nun ſoll dieſer Antrag, wie mein Kollege Vogel ſchon ſagte, nicht eine Durchbrechung des Normal⸗ beſoldungsetats bedeuten, ſondern wir wollen ganz einwandfrei ohne weiteres allen ſtädtiſchen An⸗ geſtellten, die ein Einkommen von unter 2000 ℳ haben, in Anbetracht der Lebensmittelteuerung eine gewiſſe Zulage gewähren. Bei anderen Fällen, wo ebenfalls darauf hingewieſen worden iſt, daß vielleicht das Prinzip des Normalbeſoldungsetats in Frage geſtellt werden könnte, hat man Mittel und Wege gefunden, das zu erreichen, was man erreichen wollte. Deswegen waren wir der Meinung, daß man in dieſem Falle auch unſerm An⸗ trage Rechnung tragen könnte. Die Deputation hat ſich nicht ſoweit aufgeſchwungen — der Magiſtrat war dagegen —, unſern Antrag zu akzeptieren. Nun hat Herr Kollege Meyer neue Anträge ge⸗ ſtellt, die darauf hinausgehen, daß einmal allen An⸗ geſtellten, die bis 2000 ℳ verdienen und einen eigenen kinderloſen Hausſtand haben, 30 ℳ gewährt werden ſollen, und daß dann wiederum anderen Haushalten, in welchen Kinder vorhanden ſind, 40 % gewährt werden ſollen. Meine Herren, wir ſind auch mit dieſem Antrage einverſtanden, und zwar aus dem Grunde, weil er unſerem Antrage bedeutend näher kommt als die Magiſtratsvorlage; denn der Kreis der Beteiligten, der von den Maßnahmen infolge dieſer Anträge betroffen werden ſoll, iſt gegenüber der Magiſtratsvorlage bedeutend erweitert. Aber, meine Herren, der Kreis der Beteiligten wird zwar erweitert, dagegen wird die Wirkung nicht ver⸗ tieft. Denn es kann unter Umſtänden durch An⸗ nahme des Antrages Meyer ſo weit kommen, daß einzelne kinderreiche Familien bedeutend weniger erhalten, als es nach der Magiſtratsvorlage der Fall 9 würde. Trotzdem aber ſtimmen meine Freunde afür. Wir ſind der Anſicht, daß nicht daran zu denken iſt, daß die Lebensmittelpreiſe in abſehbarer Zeit ſinken werden. Im Gegenteil, ſie werden ſteigen. Die Preſſe bringt jetzt ſchon dieſe Anſicht beſtätigende Berichte. Die Fleiſchpreiſe haben jetzt ſchon eine bemerkbare Steigerung erfahren, ſo daß die einmalige Zulage nicht ausreichen wird, um zu verhindern, daß immer und immer wieder ſolche Anträge an den Magiſtrat und Stadtverordnetenverſammlung heran⸗ kommen werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Deswegen wäre es doch gut, daß man weiter gehen würde, da an eine Verbilligung der Lebensmittel nicht zu denken iſt. Nun ſollen nach der Magiſtratsvorlage Leute eine Zuwendung erhalten, die einen eigenen Haus⸗ ſtand und Kinder haben. Herr Kollege Meyer hat ja geſagt: man kann oder darf oder ſoll nicht in die 181¹ Verhältniſſe des Einzelnen hineinleuchten, um feſt⸗ zuſtellen, ob er ſchließlich mehr oder weniger weit⸗ gehende Verpflichtungen hat, ſondern nur, ob er einen eigenen Haushalt hat. Wir verſtehen aber den An⸗ trag des Herrn Kollegen Meyer ſo, daß er verlangt, daß jede Perſon, die zwar keinen eigenen Haushalt hat, aber gewiſſermaßen einem Haushalt vorſteht, auch dieſe Zuwendung bekommen ſoll. Ich will den Antrag alſo dahin interpretieren: es gibt Leute, die 3. B. eine Mutter und noch Geſchwiſter haben, die ſie unterhalten müſſen, trotzdem nicht offiziell Haus⸗ haltungsvorſtäde ſind, aber doch mindeſtens als ſolche in Frage gezogen werden müſſen. Wenn dieſer Antrag ſo gemeint iſt, ſtimmen wir, wie ſchon geſagt, dafür. Um aber für alle im Rahmen der gezogenen Gehaltsgrenze fallenden Angeſtellten und Arbeiter etwas zu ſchaffen, wünſchen wir, daß der Abſatz 1 der Magiſtratsvorlage angenommen wird; beantragen dazu aber, hinter dem Abſatz 1 einzufügen: Unter 30 ℳ ſollen aber Teuerungszulagen nicht gegeben werden. Ferner wird jeder Perſon, die einem Haushalt vorſteht, eine ein⸗ malige Teuerungszulage von 30 gewährt. Nun halte ich mich für verpflichtet, noch einiges zu der Begründung zu erwähnen. Mir kommt die Begründung des Magiſtrats in mancher Beziehung ſonderbar vor. In der Deputationsſitzung ſind die Gründe nicht angeführt worden; ich habe ſie wenig⸗ ſtens nicht gehört. Das mag ja daran gelegen haben, daß ich nicht bis zum Schluſſe der Sitzung anweſend ſein konnte. Die Vorlage wird zum Teil damit mo⸗ tiviert, daß man annimmt, daß ein Haushaltungs⸗ vorſtand, der keine Kinder hat, ſchließlich ſeine Frau mitarbeiten laſſen kann, damit ſie zum Lebensunter⸗ halt beiträgt. Richtig iſt, daß eine Frau, die keine Kinder zu beauſſichtigen hat, leichter einen Neben⸗ erwerb ergreifen kann als eine Frau, die noch Kinder zu verſorgen hat, Das ſteht feſt; darüber ſind wir alle einig. Aber da⸗ Prinzip, das durch dieſe Worte zum Ausdruck gebracht worden iſt, befremdet meine Freunde. Man verlangt hier indirekt, daß die ſtäd⸗ tiſchen Angeſtellten, die nach unſerer Meinung mit ihrem Gehalt auskommen ſollten, ihre Frauen mit⸗ arbeiten laſſen ſollen! Nun, meine Herren, wenn man in dieſen ſchlechten Zeiten, wo wir ſchon ein Ueberangebot von männlichen Arbeitskräften haben, verſucht, die Frauen zu veranlaſſen, ſich gewerblichen Arbeiten zu widmen, wenn man verſucht, die Frauen zu veranlaſſen, Heimarbeit anzunehmen uſw., dann kann es ſoweit kommen, daß noch die Löhne der männlichen Arbeitskräfte gedrückt und die Frauen ſchließlich noch dem Siechtum in die Arme getrieben werden, was Heimarbeit faſt immer im Gefolge hat. Wenn die Löhne nicht genügen, ſoll man anerkennen, daß der Normalbeſoldungsetat nicht mehr genügt, und daß die Löhne im großen und ganzen aufge⸗ beſſert werden müſſen. Ich will daran erinnern, meine Herren — ich will nicht boshaft ſein, aber ich halte es für meine Pflicht, das hier zu ſagen —, daß in vielen Fällen, wo es ſich darum gehandelt hat, Anträge zu begründen, die Gehälter der höheren Be⸗ amten zu erhöhen, man nicht darauf hingewieſen hat, die Frauen der in Frage kommenden Beamten zur Erwerbsarbeit anzuſpornen; da hat man davon Ab⸗ ſtand genommen. Aber hier, wo es ſich um kleine Beamte, um die ſtädtiſchen Arbeiter handelt, ſcheut man ſich nicht, zu ſagen: wenn ihr nicht auskommt, ſchickt einfach eure Frauen auf Arbeit!