Sitzung vom 22. Mai 1912 etwas getan aus Angſt vor gewerkſchaftlichen Orga⸗ niſationen. Ich bin überzeugt, daß er dieſen Aus⸗ druck in der vollen Strenge des Begriffs nicht auf⸗ recht erhalten wird. Stadtv. Dr. Stadthagen: Meine Herren! Das ſchwierigſte und größte Problem der Sozialpolitik in den nächſten Jahrzehnten ſoll uns heute hier beſchäf⸗ tigen, das Problem, die Arbeitsloſigkeit zu mindern, eines der Mittel weiter auszubauen, das bisher gefun⸗ den iſt, um in gewiſſen Grenzen der Arbeitsloſigkeit zu ſteuern. Meine Herren, wie ſchwer das Problem iſt, erſehen Sie, ſowie Sie an irgendeine der Einzel⸗ fragen herangehen, die in ihm verſteckt liegen; und auch nur dadurch erklärt es ſich, ſowohl daß die ge⸗ miſchte Deputation, die Sie ſeinerzeit eingeſetzt haben, jahrelang beraten hat, als auch, daß jetzt Ihr Ausſchuß auch wieder ſehr lange Zeit, viele Monate, gebraucht hat, um zu einem Ergebnis zu kommen. Nur einen einzigen dieſer Einzelpunkte will ich herausgreifen, weil er generelle Bedeutung hat und auch in unſeren Beratungen eine großen Raum einge⸗ nommen hat. Das iſt die Frage: zieht man die Saiſon⸗ arbeiter in die Sache hinein oder nicht? Meine Herren, ich will nicht auf die einzelnen Gründe ein⸗ gehen; ich will Sie nur darauf verweiſen, wie mol⸗ luskenhaft dieſes ganze Problem iſt. Das, was man früher ſelbſtverſtändlich als eine Saiſonarbeit ange⸗ ſehen hat, z. B. die Arbeit der Maurer, iſt heutzu⸗ tage nicht mehr in dem Sinne Saiſonarbeit. Während früher der Maurer in der Großſtadt im Winter unter allen Umſtänden monatelang hat feiern müſſen, hat das jetzt aufgehört. Es hat nicht aufgehört, weil unſere Witterungsverhältniſſe andere geworden ſind — die ſind ganz ebenſo geblieben —, nein, die Bau⸗ technik iſt anders geworden, man baut viel ſchneller uſw., andere Grüde ſind hinzugekommen, ſo daß jetzt eigentlich der Maurer gar nicht mehr als Saiſon⸗ arbeiter in dem wirklichen Sinne anzuſehen iſt; in den meiſten Wintern arbeitet er bis auf wenige Tage, eventuell in ſtrengen Wintern bis auf wenige Wochen. Ganz andere Gruppen von Saiſonarbeitern ſind aber entſtanden und entſtehen täglich neu. Ich erinnere Sie an die Konfektion. Aber, meine Herren, der Be⸗ trieb in der Konfektion kann ſich jeden Augenblick wieder ändern; es kommt auch da auf die Organiſation an. Infolgedeſſen hat ſich der Ausſchuß nicht in der Lage geſehen, die Saiſonarbeiter beſonders zu be⸗ handeln, abzutrennen, wie es von manchen Seiten ge⸗ wünſcht wurde. Nun das geſamte Problem. Meine Freunde haben bei der erſten Beratung bereits betont, daß wir es nicht für richtig halten, daß eine kleine Kommune, die doch eine Enklave in Großberlin bildet, dieſem Problem näher tritt. Sie hätten es für richtiger ge⸗ halten, wenn die Arbeitsloſenverſicherung nur auf breiter Baſis aufgebaut wird. Sie befanden ſich in Uebereinſtimmung, glaube ich, mit der Geſamtheit der Stadtverordnetenverſammlung darin, daß eine wahre Löſung des Problems der Arbeitsloſen⸗ verſicherung nur auf Grund der Reichsverſicherung oder mindeſtens der Landesverſicherung zu erreichen iſt. Wir haben ſeinerzeit auch Anträge dem Aus⸗ ſchuß unterbreitet, daß wenigſtens verſucht werden ſollte, dieſes ſchwierige Problem innerhalb der Pro⸗ vinz, des Kreiſes, mindeſtens aber innerhalb Groß⸗ berlins in Angriff zu nehmen, aber davon Abſtand zu nehmen, es nur in einer Einzelkommune zu löſen. Meine Herren, wir ſind auch heute noch in unſerm 219 Innerſten davon überzeugt, daß dieſe unſere Vor⸗ ſchläge richtig ſind, daß alles andere nur Stückwerk iſt, das zu einem wirklichen, zu einem greifbaren Reſultat kaum führen kann. Trotzdem ſind wir zu einem Entgegenkommen bereit und wollen mit Ihnen, mit dem Magiſtrat den Weg beſchreiten, einen Verſuch zu unternehmen, einen Verſuch, der ja auch von Regierungsſeite und vom Reichstage damals als Grundlage für eine etwaige ſpätere Reichsarbeits⸗ loſenverſicherung gewünſcht wurde. Meine Herren, bei dieſem Verſuche muß doch aber immer im Auge behal⸗ ten werden, was denn eigentlich da⸗ bei der Hauptgeſichtspunkt iſt. Der Hauptgeſichtspunkt der Arbeits⸗ loſenverſicherung muß doch ſein, der N t lage der Arbeiter, wenn ſie ar⸗ beitslos geworden ſind, zu ſteuern, und zwar da der Notlage zu ſteuern, wo ſie am größten iſt. (Sehr richtig!) Dieſem Prinzip trägt bis zu einem gewiſſen Grade die Vorlage des Magiſtrats Rechnung, indem ſie eine ſtädtiſche Arbeitsloſenverſicherungskaſſe vorſieht, oder indem ſie ein Sparkaſſenbuch vorſieht, das für den Fall der Arbeitsloſigkeit geſperrt werden kann, und in dieſen Fällen einen Zuſchuß der Stadt in Ausſicht ſtellt. In dieſe ſtädtiſche Arbeitsloſenverſicherungs⸗ kaſſe kann jeder eintreten, der die Bedingungen des Statuts erfüllt, die nicht zu ſchwierig ſind, jeder, er mag organiſiert ſein oder mag nicht organiſiert ſein, er mag Sozialdemokrat oder konſervativ ſein, er mag dort arbeiten oder mag hier arbeiten, er mag Saiſonarbeiter ſein oder in irgend einer beſtimmten anderen Branche tätig ſein. Meine Herren, da be⸗ ſchreiten wir ein Gebiet, das bisher in dieſer Art, wie es die Vorlage vorſieht, wenn man das in dem Sinne des Herrn Kollegen Rothholz aus ihr heraus⸗ ſchält, in der Tat von keiner andern Seite bisher in Deutſchland beſchritten iſt. Es ſollen ja — das iſt der Wunſch nicht der Regierung nur, ſondern der leitenden politiſchen Perſönlichkeiten in allen politiſchen Parteien, kann ich ſagen — es ſollen ja Verſuche gemacht werden nach der einen oder anderen Richtung. Straßburg hat ein gewiſſes Syſtem eingeführt, Leipzig ein anderes, Cöln wieder vor allen Dingen ein anderes Prinzip, das es in neuerer Zeit im übrigen ja ge⸗ ändert hat. So iſt auch nach dieſer Richtung durch⸗ aus zu wünſchen, wenn dieſe Verſuche gemacht wer⸗ den, daß wir einen anderen Verſuch machen. Wenn nun geſagt wird: nein, von den drei Gruppen — einer ſtädtiſchen Arbeitsloſenverſiche⸗ rungskaſſe, Sperrung des Sparkaſſenguthabens und Unterſtützung der Gewerkſchaften, Gewerkvereine uſw. — kann die letzterwähnte Möglichkeit nicht aus⸗ ſcheiden, ſo werden dafür mehrere Gründe geltend gemacht, vor allen Dingen der Grund, daß dann ein Torſo entſtände. Meine Herren, wieſo da ein Torſo entſtehen ſollte, wie der Herr Berichterſtatter erwähnt hat — es iſt ja wohl das Wort auch im Ausſchuß gefallen — das kann ich nicht einſehen. Nach dem, was ich Ihnen auseinandergeſetzt habe, ſind ja die gewerkſchaftlichen Mitglieder ohne wei⸗ teres in der Lage, dieſer Kaſſe beizutreten.