Sitzung vom 22. Mai 1912 Städtetag hat ja eine dahingehende Theſe ange⸗ nommen, wobei er ſich allerdings auf den Stand⸗ punkt ſtellte — gegen den Einſpruch, den ich, ich glaube im Sinne der hieſigen Gemeindebehörden, vor⸗ gebracht habe —, daß die Bezirke und Berufe nicht etwa von den Gemeinden ſelbſt, ſondern vom Bundes⸗ rat beſtimmt werden ſollen. Aber ſo oder ſo, bis ein derartiges Geſetz kommt und gar bis eine allgemeine Verſicherung im Lande oder im Reiche kommt, iſt es noch unendlich weit, und bei der großen Unkennt⸗ nis, die über die Grundlagen der ganzen Materie herrſcht, iſt es den Regierungen nicht einmal ſo ſehr zu verübeln, wenn ſie abwarten wollen, bis noch mehr Erfahrungen im kleineren Kreiſe geſammelt ſind. So gingen wir ja denn auch hier von der Auffaſſung aus, nicht, daß wir etwas auch nur halbwegs Voll⸗ kommenes ſchaffen werden, ſondern daß wir verſuchen wollen, etwas zu leiſten, was als Material für die Zukunft dienen kann. Wir ſind dabei ferner davon ausgegangen, daß wir, da die Einführung einer obligatoriſchen Verſiche⸗ rung nicht möglich iſt, nur die Möglichkeit haben, die Selbſthilfe auf dieſem Gebiete mit allen Mitteln zu fördern; und da haben wir uns bemüht, je den Weg herauszufinden, auf dem ſich die Selbſthilfe be⸗ tätigen kann. Nun verlangen die Herren von uns, wir ſollen denjenigen Weg ver⸗ ſchließen, auf dem bisher am meiſten und erfolgreichſten gearbeitet wor⸗ d en i ſt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) Wir wollen die Gewerkſchaften nicht bevorzugen; denn die Klagen der Nichtorganiſierten wären berech⸗ tigt, wenn wir in dem Sinne der urſprünglichen Jaſtrowſchen Vorſchläge uns auf die Unterſtützung der Gewerkſchaften beſchränken würden. In dem Augen⸗ blicke aber, wo wir jedem einzelnen Arbeiter die Möglichkeit geben, ſich unter mindeſtens ebenſo gün⸗ ſtigen Bedingungen zu verſichern, wie er es bei den Gewerkſchaften kann, (Zuruf bei den Liberalen: Boykottiert!) fällt jeder Vorwurf weg. Die Gewerkſchaft kann in dieſem unſerm Vorgehen auch keinen feindlichen Akt ſehen. Allerdings aber könnte ſie einen feindlichen Akt darin ſehen, wenn wir ſo verfahren, wie die Herren Vorredner vorgeſchlagen haben; und da habe ich wohl einmal in der Diskuſſion im Ausſchuß auf die praktiſchen Folgen hingewieſen, die es haben würde, wenn wir die Gewerkſchaften ſo vor den Kopf ſtoßen, daß ſie nämlich dann ſicher ihren ganzen Ein⸗ fluß aufbieten würden, um die ſtädtiſche Arbeitsloſen⸗ verſicherungskaſſe nicht gedeihen zu laſſen. Und, meine Herren, der Einfluß der Gewerkſchaften geht ſelbſtverſtändlich ſehr viel weiter als auf ihre eigenen Mitglieder. Ich habe das jedoch nicht als unſern Grund gegen den betreffenden Antrag angeführt, und ich habe auch keine Angſt vor den Gewerkſchaften be⸗ kundet. Ich habe vielmehr auch im Ausſchuß unſere grundfätzlichen Gründe angeführt, wie ich ſie heute angeführt habe, beſonders auch, daß wir paritätiſch vorgehen wollen, indem wir jeden Weg der Selbſt⸗ hilfe in gleicher Weiſe unterſtützen. Ich glaube, daß man es uns nicht verargen kann, wenn wir auf dieſem Grundſatze beſtehen bleiben. Es kommt nun dazu, daß die Erfahrungen aller⸗ orten beweiſen, daß ſtädtiſche Arbeitsloſenfürſorge⸗ einrichtungen, ſeien es Sparkaſſenzuſchüſſe oder be⸗ 223 ſondere Kaſſen, die nur für ſich beſtehen, die ſich nicht nach dem Genter Syſtem auch an die beſtehen⸗ den Verſicherungen anlehnen, ein höchſt klägliches Fiasko gemacht haben. Wenn die Cölner Kaſſe eine Ausnahme macht, ſo liegt das daran, daß hier zu⸗ nächſt ſehr große Mittel durch eine Stiftung zur Ver⸗ fügung ſtanden. Trotzdem hat auch ſie ſich entſchließen müſſen, die urſprüngliche Iſolierung aufzugeben und auch ihrerſeits Anſchluß bei den Gewerkſchaften zu ſuchen. Alſo es ſteht allerorten feſt, und die recht an⸗ geſchwollene Literatur zeigt Ihnen das auf jeder Seite, daß ohne die gewerkſchaftliche Unterſtützung und ohne Zwang eine Verſicherungskaſſe ſich nicht halten kann reſp. nur ganz minderwertige Erfolge er⸗ zielt; Erfolge, die eine Gemeinde, die ſich lediglich darauf beſchränkt, einigermaßen lächerlich zu machen geeignet ſind, namentlich aber dann, wenn eine ſolche Gemeinde wie die unſrige in jahrelanger Arbeit ſich abgemüht hat, etwas Gutes zu ſchaffen, und dann mit etwas ſo Minderwertigem herauskommt. Was ſonſt geſagt worden iſt, z. B. über die Schwierigkeiten der Kontrolle, das ſind ja alles Dinge, die in der Theorie zurecht beſtehen; die Praxis hat aber auch hier gezeigt, daß es ganz gut möglich iſt, auch von ſeiten der Arbeitsnachweiſe eine gute Kon⸗ trolle auszuüben, daß auf der andern Seite eine gute Kontrolle von den Berufsvereinigungen ausgeübt wird, (Sehr richtig!) und daß nur in ſehr ſeltenen Fällen die Ergebniſſe dieſer beiden Kontrollen einander widerſprechen. Wo das einmal der Fall geweſen iſt, hat man die Sache aufgeklärt, und gewöhnlich war jeder Teil dem andern dankbar, daß er ihn in der Kontrolle unterſtützt hat. In praxi haben ſich die gefürchteten Streitigkeiten tatſächlich nicht ergeben. Dann iſt angeführt worden, daß der Arbeitgeber ſich doch keinesfalls entſchließen würde, Beiträge zur ſtädtiſchen Kaſſe zu geben, wenn aus ſtädtiſchen Mit⸗ teln auch die Berufsvereinigungen unterſtützt würden. Meine Herren, ich muß geſtehen, daß ich dieſen Ge⸗ dankengang micht ganz faſſen kann. Nehmen wir an, ein Arbeitgeber, der den Berufsvereinigungen gegne⸗ riſch gegenüberſteht, wünſchte ſeine Arbeiter möglichſt dieſen Vereinigungen fern zu halten. Der kann ja gar kein beſſeres und dabei von jedem Odium freies Mittel finden, als daß er die Arbeiter der ſtädtiſchen Arbeitsloſenverſicherungskaſſe zuführt und ſie damit wenigſtens davon unabhängig macht, daß ſie etwa aus Rückſicht auf künftige Arbeitsloſigkeit einer Ge⸗ werkſchaft beitreten. Wenn ſie es aus anderen Grün⸗ den tun wollen, ſo werden ſie es ſelbſtverſtändlich nach wie vor tun. Eine Förderung des Beitritts zur Gewerkſchaft kann aber jedenfalls durch unſere Vor⸗ ſchläge nicht herbeigeführt werden. Auf der andern Seite kann ſehr wohl bei den beſtehenden Gewerkſchaften, die noch keine Verſiche⸗ rung gegen Arbeitsloſigkeit haben, die Einführung einer ſolchen Verſicherung gefördert werden, und das halte ich auch für einen guten Zweck. Denn ſelbſt⸗ verſtändlich wird eine Gewerkſchaft, die nach Lage der Dinge ein Tagegeld von höchſtens 60 § gewähren könnte, ſich ſehr ſchwer entſchließen, eine Verſicherung mit ſo minimalen Tagegeldern erſt einzuführen. Wenn ſie aber weiß, daß der Verſicherte zu dieſen 60 5 noch 30 5 Zuſchuß von der Stadt bekommt, im ganzen alſo doch nahezu eine Mark, dann wird ſie an dieſe Tätigkeit ſchon eher herangehen. 4