Sitzung vom 22. Mai 1912 — Meine Herreu, ob Sie darüber lachen oder nicht, das iſt mir ziemlich gleichgültig; wenn Sie ſich das, was Sie geſagt haben, überlegen, ſo werden Sie mir zugeben müſſen, daß, falls Ihre Ausfüh⸗ rungen Anſpruch auf Logik machen, nur das dar⸗ unter gemeint ſein kann. Ueber die Stellungnahme, die wir zu den ein⸗ zelnen Punkten einnehmen, werden ſich meine Freunde nachher äußern. Ich möchte am Schluſſe nur noch bemerken: wenn Herr Stadthagen ſagt, daß in abſehbarer Zukunft ein Zuſammengehen mit Groß⸗ berlin herbeigeführt werden kann, ſo iſt darauf zu erwidern: das Zuſammengeheu mit Großberlin wird gerade durch die Art und Weiſe verhindert, wie Sie den einzig vernünftigen Punkt der Magi⸗ ſtratsvorlage bekämpfen. Schöneberg hat das, was Sie hier ablehnen wollen, bereits längſt eingeführt, und ich möchte ein⸗ mal ſehen, wie Sie z. B. mit Schöneberg zuſammen⸗ gehen wollen, wenn Sie ſich ſagen müſſen: ja, ihr habt etwas Gutes, aber wir Charlottenburger ſind ſo rückſtändig, daß wir das Gute geſtrichen haben. Dann werden jene ſagen: wir ſind nicht ſo rück⸗ ſtändig wie Charlottenburg. Aber ich hoffe, daß Schöneberg darauf nicht eingehen wird. Stadtv. Dr Landsberger: Meine Herren! Ich war vorhin nicht in der Lage, zu betonen, was ich an der Vorlage von meinem eigenen Standpunkte aus beſonders empfehlen möchte, weil ich als Bericht⸗ erſtatter mich möglichſter Objektivität befleißigen und alles Für und Wider zu gleichem Rechte kommen laſſen wollte, keines beſonders hervorheben durfte. Wenn ich mich jetzt für meine Meinung und für die eines Teils meiner Freunde gegen die des Herrn Kollegen Ir Rothholz wenden muß, ſo bin ich natürlich weit davon entfernt, mit Herrn Kollegen Hirſch etwa zu meinen, daß die Gründe, die Herr Kollege Rothholz vorgebracht hat, irgendwie — ich will den Ausdruck „konfus“ gar nicht wiederholen — auch nur irgend⸗ wie von Widerſprüchen wimmelten oder der Logik, wie Herr Kollege Hirſch öfter geſagt hat, entbehrten. Ich bin vielmehr mit Herrn Kollegen Rothholz bei manchem Geſichtspunkte in vollkommenem Einver⸗ ſtändnis. Auch ich halte die ſchematiſche Un⸗ terſtützung Arbeitsloſer, wie ſie durch die Vorlage gegeben iſt, für einen Uebelſtand, daß nämlich dem⸗ jenigen, der ſehr wenig Arbeitsloſenunterſtützung ſeitens einer Vereinigung erhält, auch nur ein Mi⸗ nimum von der Stadt als Zuſchuß hinzugefügt wird, ſo daß ein ſolcher Arbeitsloſer nicht weſentlich in ſeinen kläglichen Verhältniſſen gebeſſert wird. Aber darüber iſt ja kein Zweifel: die Vorlage iſt, wie Herr Stadtrat Dr Spiegel noch einmal aus⸗ geführt hat, und wie es auf dieſem ſehr dornigen Gebiet auch nicht zu verwundern iſt, nur ein Ver⸗ ſuch, und zwar ein ſehr ſchwieriger Verſuch, der ge⸗ wiß voller Mängel iſt und auch nicht leicht fehlerlos geſtaltet werden kann. Mein Standpunkt zur Vor⸗ lage iſt ganz allgemein der: vom Standpunkte der Selbſtverwaltung und der Stadtgemeinde aus halte ich es bei der heutigen Entwicklung der Dinge für not⸗ wendig, daß ſie alle Formen der Selbſthilfe gegen alle Formen des Unglücks energiſch unterſtützt. Nun iſt die Arbeitsloſigkeit wirklich einer der ſchlimmſten Schäden, welche einen Menſchen treffen können; es gibt kein größeres Unglück, kein größeres Elend, als 227 wenn ein arbeitsfähiger und arbeitswilliger Menſch ohne eigene Schuld arbeitslos wird. (Sehr richtig.) Man muß zu verhüten ſuchen, daß er in dieſer Lage, wo er alles, was er kann, um ſich über die Notlage hinwegzuhelfen, ohnehin ſchon weggibt, allzu geringe Unterſtützung erhält, und daß er verarmt. Denn das hat eine weſentliche Folge. Die Stadt iſt auch mit ihrem Intereſſe dabei beteiligt. Es iſt kein Zweifel, daß der Armenetat hierdurch beein⸗ flußt wird, — wenn auch nicht direkt dadurch, daß ein Arbeitsloſer, der nicht verſichert iſt und eine ge⸗ rade noch auskömmliche, wahrſcheinlich noch unter dem Niveau des Auskömmlichen bleibende Unter⸗ ſtützung erhält, nicht ſelbſt dem Armenetat zur Laſt fällt. Aber wenn die beſſer geſtellten Arbeiter ſelbſt die Pflicht der Selbſthilfe empfunden haben und ſich in irgend einer Weiſe bei irgend einer Vereini⸗ ſgung gegen die Arbeitsloſigkeit verſichert haben, ſo iſt kein Zweifel, daß, wenn ſie verarmen und in ihren Lebensformen ſinken, das Heer der ungelernten Ar⸗ beiter einen viel größeren Umfang gewinnt, und das iſt ja diejenige Bevölkerungsklaſſe, bei der der Armenetat in ſchlimmen Zeiten die meiſten Laſten übernehmen zu müſſen pflegt. Auf dieſe indirekte Weiſe iſt die Stadt auch materiell beteiligt, daß wir die Not durch Arbeitsloſigkeit nicht zu ſehr um ſich greifen laſſen. Und dann: die Selbſthilfe zu fördern, iſt ein Gebot der Selbſtverwaltung, das wir überall an⸗ erkennen. Nun muß ich ſagen: die Gewerkſchaften über ſehr wirkſame Selbſthilfe, und ich vermag ſie nicht vom ſtädtiſchen Zuſchuſſe auszuſchließen, blos weil ihre Mitglieder nebenher zum großen Teile politiſche Ziele verfolgen, die ich nicht billige. Sie würden ja, wenn es ſich nicht um dieſe Nebengründe handelte, denjenigen, die bei den Vereinigungen ver⸗ ſichert ſind, im Falle der Arbeitsloſigkeit auch gern Unterſtützung gewähren. Sie fürchten bloß die poli⸗ tiſche Begünſtigung, da ja allerdings den Gewerk⸗ ſchaften, wie ich ſchon in meinem Referat ſagte, in praxi die weitaus größte Maſſe der unterſtützten Arbeiterſchaft zuzuzählen iſt. Aber in Straßburg iſt eine ſolche Begünſtigung, ein Hineintreiben der Arbeiter in die Gewerkſchaften durch die ſtädtiſche Ar⸗ beitsloſenunterſtützung nicht zur Beobachtung ge⸗ kommen. Man muß doch auch hiſtoriſch anerkennen, daß die Gewerkſchaften in der Tat andere Gebilde als politiſche ſind. Es iſt richtig, zweifellos richtig und durch keine Redeform aus der Welt zu ſchaffen, daß der größte Teil der Gewerkſchaften in ihrer politiſchen Geſinnung in der Tat der ſozialdemo⸗ kratiſchen Partei angehört; aber an ſich ſind doch die Gewerkſchaften keine politiſchen Gebilde. Und bedenken Sie doch, wie in England, wo dieſe Dinge überhaupt am längſten beſtehen, die trade-unions gar nicht daran dachten und in ihrer großen Maſſe noch jetzt gar nicht daran denken, die ſozialdemo⸗ kratiſche Richtung beſonders zu pflegen; ſondern es ſind wirtſchaftliche Gebilde, die ihre Mitglieder heben und vor Unglück ſchützen wollen. Und weil ſie das in wirkſamer Weiſe, in entſchieden anerkennens⸗ werter Weiſe tun, ſollen wir gerade dieſe Gruppen ausſchließen? Das iſt nicht nötig, meine Herren: das heißt unſererſeits einen politiſchen Geſichts⸗ punkt in die Dinge hineintragen, die nicht ſo zu be⸗ urteilen ſind.