Sitzung vom 22. Mai 1912 Stadtv. Jaſtrow (fortfahrend): Das betrachte ich, muß ich ſagen, als eine Herzloſigkeit, wir würden das den Arbeitern gegenüber niemals tun. Und wenn wir nun dieſen Arbeitern die Ge⸗ legenheit geben, ſich zu verſichern — die Arbeiter, die in den Gewerkſchaftskaſſen ſind, ſind verſichert, die bekommen ſchon etwas bei eintretender Arbeitsloſig⸗ keit —, was haben Sie denn dagegen? Nun hat Herr Kollege Rothholz geſagt, daß es dann auch den Arbeitgebern möglich iſt, ihre ſämtlichen Arbeiter korporativ zu verſichern. Da meinte jedoch Herr Kollege Hirſch: jawohl, wenn das geſchieht, wenn wir dieſe Verſicherungskaſſe einrichten, dann geben wir den Arbeitgebern Gelegenheit, die Ab⸗ hängigkeit der Arbeiter von ihnen noch zu vergrößern. — Das hat Herr Kollege Hirſch geſagt, das können Sie jetzt mit Kopfſchütteln nicht abwehren. — Ja, was tun denn die Gewerkſchaften anders? Das Gute, das ſie ſchaffen, das ich nach jeder Richtung anerkenne, machen ſie das auch nur aus dem Grunde, um die Arbeiter von ſich abhängig zu machen? (Widerſpruch.) Das werden Sie natürlich nicht zugeben und ich will es auch nicht behaupten. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Iſt auch etwas anderes!) Warum unterſtellen Sie dann den Arbeitgebern, daß ſie, wenn ſie ihre Arbeiter verſichern wollen, es nur tun, um ſie zu knechten und zu ſchädigen? Nun wurde geſagt: dieſe Verſicherungskaſſe iſt ſchon deshalb wertlos, weil ſie die Selbſthilfe und die Selbſtverwaltung ausſchließt. Ja, eine beſſere Selbſt⸗ hilfe als eine Verſicherungskaſſe gibt es überhaupt nicht, und über eine Mitverwaltung ſeitens der Arbeiter beziehungsweiſe der Verſicherten bei einer ſtädtiſchen Verſicherungskaſſe läßt ſich doch ſprechen. Warum denn nicht? Ich bin ſehr dafür, daß in der Verwaltung einer ſolchen Verſicherungskaſſe, die von der Stadt eingerichtet wird, auch Arbeiter ſitzen, die bei der Kaſſe verſichert ſind. Wir haben dann nicht allein die Kontrolle der Stadt, ſondern wir haben auch die Kontrolle ſeitens der Arbeiter. Damit haben Sie eigentlich das Beſte, was es nach dieſer Richtung geben kann — vorausgeſetzt, daß die Gewerkſchaften ſie nicht boykottieren, daß ſie Frieden miteinander halten, daß ſte ſie leben laſſen und nicht aus politi⸗ ſchen Rückſichten boykottieren. Der Herr Stadtv. Rothholz hat Ihnen noch eine ganze Anzahl von Gründen mit ſtatiſtiſchem Material angeführt, die ich jetzt nicht wiederholen will. Hiernach und aus den Gründen, die ich an⸗ gegeben habe, bitte ich Sie dringend, meine Herren, dieſen Paſſus aus der Vorlage zu ſtreichen. Ich bitte auch den Magiſtrat, ſich nicht auf den abſoluten Standpunkt zu ſtellen, daß er dann die ganze Vorlage fallen läßt, ſondern daß er ſeine Vorlage beſtehen läßt, auch wenn der Paſſus geſtrichen wird. Ich hatte in der letzten Sitzung eine eigentümliche Empfindung und habe ſie heute noch: in der vorigen Sitzung entwickelte ſich bei Beratung der Verſicherung der Lehrerinnen eine merkwürdige Freundſchaft zwiſchen Sozialdemokratie und Magiſtrat; Herr gen Borchardt hatte direkt ſeine Hoffnungen auf den Magiſtrat geſetzt, und es wurde ihm dann auch 4 233 vom Herrn Bürgermeiſter Matting beſtätigt, daß er hoffen dürfte. (Heiterkeit.) Auch heute ſieht man wieder innige Freundſchaft zwiſchen Magiſtrat und Sozialdemokraten. (Stadtv. Zietſch: Freuen Sie ſich doch!) Ich bin der letzte, der ein ſolch aufkeimendes Ver⸗ hältnis ſtören möchte; aber der ſelige Sabor würde geſagt haben: das läßt tief blicken! (Heiterkeit. — Stadtv. Zietſch: Wen wollen Sie denn damit diskreditieren, uns oder den Magiſtrat? — Erneute Heiterkeit.) — Jeden, der ſich getroffen fühlt. (Stadtv. Zietſch: Wir nicht! — Heiterkeit.) Herr Stadtrat Profeſſor Dr. Spiegel bemerkte, daß er noch nicht ſagen könne, ob der Magiſtrat ſich mit der vom Ausſchuß vorgenommenen Streichung der Worte in § 2 einverſtanden erklären würde. Ich möchte den Magiſtrat bitten, das zu tun. Nach der Vorlage ſollen nur ſolche Arbeiter berückſichtigt wer⸗ den, die in der Gemeinde Charlottenburg arbeitslos geblieben ſind. Schon im Ausſchuß wurde geſagt, daß wir dadurch eine große Anzahl von Arbeitsloſen ſchaffen würden; Leute, die einmal die Arbeit in Charlottenburg verlieren, würden ſich in Großberlin gar nicht nach Arbeit mehr umſehen, ſie würden ſich einfach ſagen: wenn wir in einer neuen Stellung arbeitslos werden, haben wir kein Recht mehr auf die Unterſtützung der Stadt. Ich würde alſo bitten, daß ſich der Magiſtrat mit dieſem Beſchluſſe des Aus⸗ ſchuſſes einverſtanden erklärt. (Bravol) Stadtrat Dr Spiegel: Meine Herren! Wenn der Herr Vorredner einem ſeiner Kollegen aus der Verſammlung einen anmaßenden Ton vorwirft, ſo hat das die Verſammlung mit ſich abzumachen. Wenn er aber dann bemerkt, daß der Ton des Magiſtrats⸗ vertreters dem des andern Herrn ſehr nahe verwandt geweſen ſei, ſo iſt das, glaube ich, nicht mehr ganz innerhalb der parlamentariſchen Regeln. Herr Stadt⸗ verordneter Jaſtrow hat dieſen Ausſpruch damit be⸗ gründet, da ich den Reſt, der von der Magiſtratsvor⸗ lage reſp. von dem, was der Ausſchuß daraus ge⸗ macht hat, nach Annahme des Antrags Rothholz übrig bleiben würde, als lächerlich bezeichnet habe. Soviel ich weiß, habe ich von einem Reſte geſprochen, der nur lächerliche Wirkungen haben könnte. Sollte ich das anders ausgeſprochen haben, ſo habe ich es jeden⸗ falls ſo gemeint. Das aber iſt meine feſte Ueber⸗ zeugung, und ich glaube, daß ich dieſer Ueberzeugung in einer durchaus parlamentariſchen Form — zum Unterſchiede vom Herrn Vorredner — Ausdruck ge⸗ geben habe. (Glocke des Vorſtehers.) Vertreter des Vorſtehers Stadtv. Otto: Ich möchte doch bitten, daß die Form, die vom Vorſteher durchgelaſſen worden iſt, nicht direkt als unparlamen⸗ 4