Sitzung vom 2. Oktober 1912 regel, die zur Beſeitigung der Vorſchulen führen konnte, aus vollſter Ueberzeugung unterſtützen werde, und zwar nicht allcin deshalb, weil er die Vorſchulen für Luxusſchulen halte, ſondern weil er ihre Ver⸗ ſchmelzung mit der Gemeindeſchule als eine gewaltige ſoziale Tat anſähe. Weiterhin hat ſchon im Jahre 1906 die Stadtverordnetenverſammlung ſich prinzi⸗ piell dahin feſtgelegt, daß keine Vorſchulen mehr in Charlottenburg crrichtet werden ſollen. Sie ſehen alſo, meine Herren, daß man ſchon damals über die Minderwertigkeit der Vorſchulen vollſtändig einig war. Wenn nun jetzt trotzdem Stimmen laut werden, die eine andere Anſicht vertreten, ſo iſt es vielleicht angezeigt, etwas näher auf die prinzipielle Seite der Frage einzugehen. Wertvolles und Zuſammenfaſſen⸗ des hat der Abgeordnete Ernſt im preußiſchen Land⸗ ꝛag hierüber geäußert. Meine Herren, ſchon die Entſtehung der Vor⸗ ſchulen zeigt ihren reaktionären Charakter ganz deut⸗ lich. Während des erſten Drittels des 19. Jahr⸗ hunderts herrſchte hier in Preußen die allgemeine Voltsſchule. Nach dem Debacle von Jena ſahen die fuhrenden Geiſter, die Stein, Hardenberg, Wilhelm v. Humboldt ein, daß zur Reorganiſation des Staates eine ganz andere Grundlage der Erziehung geſchaffen werden müſſe, und ſo rief man die allgemeine Volks⸗ ſchule ins Leben. Sie ſehen alſo, daß die allgemeine Volksſchule ſelbſt in Preußen kein unerfüllbarer Traum iſt. Die Volksſchule herrſchte bis in die dreißiger Jahre hinein; aber ſie erlag dem Anſturm der Reaktion unter Stiehl. In dieſer Epoche der pädagogiſchen Reaktion entſtand die Vorſchule. Sie wurde zuerſt nur geduldet; Miniſter von Bethmann⸗ Hollweg erklärte: ſie iſt zu dulden. Aber in der ſpäteren Reaktionsepoche unter Mühler wurde ſogar geſagt: die Vorſchule iſt erwünſcht. Trotzdem iſt die Vorſchule geſetzlich niemals feſtgelegt worden; aler ſeit jener Zeit hat ſie ſich weiter entwickelt. Im Jahre 1906 gab es in Preußen über 30 000 Vor⸗ ſchüler, deren Zahl im Jahre 1911 auf 34 442 an⸗ wuchs. Die Vorſchulen ſind in Preußen nun ſehr un⸗ aleich verteilt; es gibt ſogar eine Provinz, nämlich Weſtfalen, die überhaupt keine Vorſchulen hat. Trotz⸗ dem Weſtfalen 30 Gymnaſien, 60 Realgymnaſien, 4 Realprogymnaſien, 12 Oberrealſchulen und 15 Real⸗ ſchulen befitzt, gibt es dort gar keine Vorſchulen. Als man den Abgeordneten Schmedding im preußiſchen Landtage fragte, wie es denn eigentlich komme, daß Weſtfalen gar keine Vorſchulen habe, antwortete er nur: „Ich kann mir das nicht anders erklären, als daß wir Weſtfalen eben vernünftigere Leute ſind als ihr.“ Die Vorſchulen in Weſtfalen ſind Ende der 80er Jahre vollſtändig eingegangen. Herr Algeord⸗ neter Berndt erklärte in derſelben Sitzung des Abge⸗ ordnetenhauſes, daß das Verſchwinden der Vorſchulen von der allerwohltätigſten Einwirkung auf die Volks⸗ ſchulc geweſen ſei. Die allgemeine Volksſchule exiſtiert heute in Weſtfalen, in Banern, in der Schweiz, in Oeſterreich, in den Vereinigten Staaten, in Skandinavien, und von überall her wird berichtet, daß die Reſultate ganz vorzüglich ſeien. Die hervorragendſten Autoritäten auf dem Gebiete der Pädagogit ſind denn auch der Meinung, daß die Vorſchule abſolut verwerflich ſei. Leute wie Harkort, Dieſterweg und der Philoſoph Paulſen ſind ausdrücklich für die Volksſchule geweſen: Hrnack, Titius und Oberregierungsrat Matthias er⸗ flärten im Jahre 1911 auf dem damaligen Evange⸗ 373 liſchen Kongreß, daß die Vorſchule die Zuchtſtätte des Kaſtenhochmuts ſei. Der verſtorbene Abgeordnete Rickert war ein bekannter Gegner der Vorſchule. Seibſt bis in hochkonſervative Kreiſe erſtreckt ſich die Abneigung gegen die Vorſchule. Es wird geſagt, daß die ſogenannten beſſeren „inder darunter litten, wenn ſie mit den Elementen der Volksſchule in Berührung kämen, daß ſie Roh⸗ herten lernten. Demgegenüber muß doch aber darauf hingewieſen werden, daß die Erfahrung das Gegenteil lehrt. Die ärmeren Klaſſen der Bevölkerung ſind in Wirklichkeit moraliſch nicht minderwerrig gegenüber den beſſergeſtellten. Und wenn wirklich die Kinder der höheren Schulen an ihrer Moral Schaden litten, ſo würden das doch ſicherlich nicht die Eltern in Banern, in Weſtfalen und in all den anderen Ge⸗ bieren, in denen die allgemeine Volksſchule durch⸗ geführt iſt, dulden; ſie hätten ſchon lange die Wieder⸗ einführung der Vorſchule durchgeſetzt. Nun iſt von dem Herrn Vorredner weiter be⸗ hauptet worden, daß das Kind dadurch, daß es nicht die Vorſchule beſucht, ein Schuljahr verliere, da es unbedingt 4 Jahre notwendig habe, um in die höhere Schule zu kommen. Dieſe Behauptung hat man bis⸗ her einfach hingenommen; man hat gemeint, ſie ſei wohl berechtigt, hat aber dennoch aus anderen Grün⸗ den die Vorſchule verworfen. Dic amtliche Statiſtik hat bisher auch noch keinen Aufſchluß darüber ge⸗ geben, wie es ſich eigentlich mit der Vorſchule in dieſer Finſicht verhält. Neuerdings hat der Deutſche Lehrerverein eine allgemeine ſtatiſtiſche Erhebung darüber veranſtaltet. Er hat im Februar d. I. an 815 Gemeinden Fragebogen verſandt. Davon ſind 50% beantwortet worden, und zwar ſtammen die Ant⸗ worten meiſtens her von den Lehrern der höheren Schulen. Das Material, das durch dieſe Umfrage zu⸗ rage gefördert wird, iſt höchſt intereſſant, und es mirft ein bedeutſames Licht auf die Behauptung, daß die Kinder ein Jahr verlieren ſollen. Einige dieſer Antworten möchte ich Ihnen hier. doch verleſen. So wird z. B. aus Oſtpreußen er⸗ mudert: „In den unteren Klaſſen kommt der Volks⸗ ſchitler beſſer fort. Ehemalige Volksſchüler pflegen nicht ſitzen zu bleiben.“ — Aus Weſtpreußen wird berichtet: „Häufig ſind die Volksſchüler die beſten Schüler des Gymnaſiums.“ — Aus Brandenburg wird geantwortet: „Von den Schülern ſind es meiſtens Volksſchüler, die lückenlos die Prima er⸗ reichen.“ — Eine andere Antwort ſagt: „Im allge⸗ meinen kommen ehemalige Volksſchüler gut fort.“ Alns Pommern wird erwidert: „Die Volksſchüler ſind in der Regel die weitaus beſſeren Schüler.“ In einem Bericht aus Schleſien heißt es: „Bisher haben die Volksſchüler in der Anſtalt ſtets die erſten Pläre eingenommen.“ Und ſo durch das ganze Ma⸗ terial hindurch, ſo daß man unbedingt die Meinung gemwinnen muß, daß die Volksſchüler im allgemeinen doch beſſer ſortkommen und daß der einjährige Ge⸗ winn der Vorſchüler nur ſehr problematiſch iſt, weil ſie nachher dieſes eine Jahr wieder verlieren. — So viel über die Bewertung, die in Fachkreiſen und auch in denjenigen Kreiſen, die ſich überhaupt um die Jugenderziehung kümmern, bezüglich der Vorſchule herrſcht. Run kommen die Petenten und verlangen, daß von dieſem prinzipiellen Standpunkt der Stadtver⸗ waltung, der feſtgelegt worden iſt, abgegangen werde, und zwar mit der Begründung, daß der Zuzug der beſſer Sitnierten leide. Dieſes Argument iſt nicht