Sitzung vom 17. Dezember 1912 Stadtrat Dr Spiegel: Der Antrag, den Herr Kollege Borchardt ſoeben verteidigt hat, hat den Fehler, daß er aus einem vielleicht berechtigten Be⸗ ſtreben heraus viel zu weit geht und das Kind, das er zur Geſundheit bringen will, tatſächlich mit dem Bade ausſchüttet. Es mag ſein, daß die Beſtimmung ſo, wie ſie hier getroffen iſt, daß mindeſtens 48 Arbeits⸗ wochen in jedem der vorangehenden Arbeitsjahre ge⸗ fordert werden, für die Verhälmiſſe des praktiſchen Lebens zu ſcharf iſt. Es iſt eine Frage, über die ſich diskutieren läßt, ob dieſe 48 Wochen, wobei der Be⸗ treffende in den letzten beiden Jahren nur je vier Wochen arbeitslos geweſen ſein darf, gerechtfertigt ſind oder ob man an dieſe Stelle eine etwas niedrigere Zahl ſetzen ſoll. Aber, meine Herren, einen gewiſen Schutzwall gegen das Hereinſtrömen aller und jeder Gelegenheitsarbeiter, die gar nicht regelmäßig arbeiten wollen oder gar nicht imſtande ſind, regel⸗ mäßig zu arbeiten, müſſen wir in der Tat errichten, wenn wir nicht einfach die öffentlichen Mittel ohne jede Kontrolle weggeben wollen. Der ſozialdemo⸗ kratiſche Antrag geht ja ſogar ſo weit, daß wir auch 0 aufnehmen ſollen, die dauernd arbeitsunfähig „ Ich möchte bei dieſer Gelegenheit bemerken, daß ſich im Artikel 4 ein ſinnwidriger Druckfehler befindet, da es in der letzten Zeile des Abſ. 1 anſtatt „dauernd arbeitsfähig befunden wird“ natürlich heißen muß: „dauernd arbeits un fähig“. Alſo dieſe Leute, die dauernd arbeitsunfähig be⸗ funden werden, ſollen wir nach dem ſozialdemo⸗ kratiſchen Antrag auch in unſere Kaſſe aufnehmen, da Sie die Streichung des ganzen Reſtes beantragt haben. — Sie würden alſo, wenn ich Ihr Kopf⸗ ſchütteln, Herr Dr Borchardt, recht verſtehe, nur be⸗ antragen, zu ſtreichen „während der beiden letzten Jahre regelmäßig beſchäftigt waren“. Wie ich aber ſchon erwähnte, geht auch dieſer Antrag zu weit, weil er das Beſtehen der Kaſſe vollſtändig unmöglich macht. Meine Herren, ich möchte Ihnen vorſchlagen: laſſen Sie uns die praktiſchen Verhältniſſe auch in dieſer Frage ſtudieren; (Sehr richtig!) laſſen Sie uns ſehen, ob es nicht eine große Anzahl tüchtiger Arbeiter gibt, die Gelegenheit hatten, in zwei Jahren hintereinander je 48 Wochen zu arbeiten, und wenn wir einen ſolchen Stamm gewinnen können, um ſo beſſer für uns und dieſen Stamm. Stellt es ſich heraus, daß die Grenze zu hoch gegriffen iſt, nun, ſo werden wir nicht zögern, Ihnen eine Herabſetzung dieſer Grenze vorzuſchlagen. Ich würde perſönlich auch nichs dagegen zu ſagen haben, wenn die Verſammlung heute ſchon eine kleine Herabſetzung beſchließen ſollte; aber ſehr weit kann ſte meines Er⸗ achtens darin nicht gehen, wenn ſie nicht das Gan gefährden will. Ich glaube, es wird Ihnen hier nich anders gehen als der gemiſchten Deputation, die die Frage jahrelang erörtert hat und auch nicht dazu kommen konnte, einen anderen beſtimmten Vorſchlag zu machen. m: Das Wort iſt nicht weiter verlangt: i ieße die Diskuſſion. Ich werde zu⸗ e arch 2 een laſſen. Hier hat 1 anſtatt „10 600 ¾ 481 Stadtv. Hirſch (zur Frageſtellung): Ich möchte bitten, daß zuerſt über Artikel 4 abgeſtimmt wird. Sollte unſer Antrag zu Artikel 4 abgelehnt werden, dann iſt der Antrag zu Artikel 3 gegenſtandslos ge⸗ worden; wir würden dieſen Antrag dann zurück⸗ ziehen. Vorſteher Kaufmann: Das würde ſowieſo auf dasſelbe hinausgehen; ich nehme aber keinen Anſtand, Ihrem Wunſche nachzukommen. Ich behalte mir die Abſtimmung über Artikel 3 vor und bitte, nunmehr in die Abſtimmung über Artikel 4 einzutreten. (In der Abſtimmung werden die Anträge der Stadtv. Ahrens und Gen. abgelehnt und die Artikel 3 und 4 ebenſo wie die Artikel 5, 6, 7 und §8 nach der Magiſtratsvorlage angenommen.) Stadtv. Richter: Meine Herren! Meine Freunde haben beantragt, in Artikel 9 den Ausdruck „oder Arbeitgebern“ zu ſtreichen. Wir ſind dabei von dem Gedanken ausgegangen, daß bisher die Arbeitgeber hier in Charlottenburg ſehr wenig Nei⸗ gung gezeigt haben, für die Arbeitsloſen, die aus ihren Betrieben kommen, etwas zu tun. Die Mehr⸗ zahl der in Charlottenburg beſchäftigten Arbeiter hat tägliche Kündigung; ſie können alſo jederzeit ent⸗ laſſen werden. Dieſe Einrichtung iſt aus dem Grunde von den Unternehmern eingeführt worden, um jederezit ihren Betrieb dem Beſchäftigungsgrad anpaſſen zu können. Damit haben aber auch die Unternehmer gezeigt, daß ſie nicht willens ſind, ihren Arbeitern, wenn ſie für ſie keine Beſchäftigung haben, ſonſtige Leiſtungen zu gewähren. Wo aber hier in Groß⸗Berlin einmal Arbeitgeber etwas getan haben, um ihre früheren Arbeiter gegen die Schäden der Arbeitsloſigkeit zu ſchützen, da haben ſie der Einrichtung einen ſolchen Charakter gegeben, daß ſogar Profeſſor Jaſtrow in ſeiner Denkſchrift davor warnen mußte. Er hat aber vor ſolchen Einrichtungen nicht nur gewarnt, ſondern ſie ſogar mit ziemlich ſcharfen Ausdrücken belegt, und zwar bezog ſich das auf die Unterſtützungseinrichtung des Berliner Metallwarenfabrikantenverbandes und auf die Einrichtung des Arbeitgeberverbandes für das Rohrlegergewerbe. Die Herren, die ſich dafür inter⸗ ſeſſieren, können das ja in der Denkſchrift nachleſen. Dann, meine Herren, kommt noch die Tatſache hinzu, auf die ja mein Freund Hirſch ſchon hinge⸗ wieſen hat. Herr Kollege Rothholz hat von dem Magiſtrat verlangt, er ſolle einen Druck auf ſeine Arbeiter ausüben. Wir fürchten nun, daß dieſer Druck, der von dem Herrn Kollegen Rothholz ge⸗ wünſcht und von dem Herrn Kollegen Wöllmer in einen ſanften Druck modifiziert worden iſt, dann auch von den übrigen Arbeitgebern, die der Kaſſe eventuell beitreten werden, erwartet wird. Da wir nicht wünſchen, daß die Einrichtung von vornherein mit einem ſolchen Odium behaftet wird, erſuchen wir Sie, unſerem Antrag zu entſprechen. Stadtrat Dr. Spiegel: Meine Herren! Die Aus⸗ führungen des Herrn Stadtverordneten Richter würde ich eigentlich als einen Grund für den Paragraphen und für die Belaſſung des Wortes Arbeitgeber in dem Paragraphen anſehen. Denn, wenn die Char⸗ lottenburger Arbeitgeber bisher für ihre Angeſtellten in dieſer Richtung nichts getan haben, dann, meine ich, iſt es die allerhöchſte Jeit, daß man ihnen einen Weg dazu weiſt, aber keinesfalls angebracht, daß man