Sitzung vom 19. Feornar 1913 Stadtv. Zietſch: Meine Herren! Ich muß auch vffen geſtehen, daß ich, als ich den Antrag geleſen hatte, mir nicht klar war darüber, was damit be⸗ zweckt werden ſollte. Und als ich dann die Ausfüh⸗ rungen des Herrn Kollegen Stadthagen hörte, dic uns auf das ganze große und gewaltige Gebiet der Mittelſtandsſorgen und laſten geführt haben, habe ich den einzigen Troſt darin gefunden, daß er gleich zu Anfang erklärte: Erſchrecken Sie nicht, die Ge⸗ ſchichte koſtet nichts! (Heiterkeit) Und er hat mich damit ſchon ein klein wenig geneigte: und zutraulicher gemacht, ſeinen weiteren Ausfüh⸗ rungen zu folgen. Ich habe dann auch, da ich der Geſchichte ein bißchen ruhiger zugehört habe, in den Ausführungen des Herrn Kollegen Stadthagen ver⸗ ſchiedene Widerſprüche herausgefunden. Einer ſeiner Freunde hat vorhin erſt bei der Etatsberatung den Magiſtrat und die Armenkom⸗ miſſionsmitglieder von Charlottenburg aufs ernſteſt⸗ verwarnt, künftig bei der Bewilligung von Armen⸗ unterſtützungsgeldern doch nicht ſo ſehr das warme Herz als vielmehr die Vernunft und die Einſicht ſprechen zu laſſen. Ich glaube, bei Herrn Kollegen Stadthagen hat ſich die erſtere Eigenſchaft jetzt auch beſonders geltend gemacht; von den beiden anderen Eigenſchaften habe ich bei der Begründung ſeines Antrags weniger bemerkt. Ich muß auch offen geſtehen, daß es mir nicht recht klar geworden iſt, wie man durch die Durchfüh⸗ rung dieſes Antrages, der ja in ſeiner Ausgeſtaltung noch ganz in dem Nebel der Zukunft verborgen iſt, die Armenlaſten verringern will. Insbeſondere wun⸗ derte mich auch die ungeheure Begeiſterung des Herrn Kollegen Stadthagen für den Arbeiterſtand und für den Mittelſtand, da er und ſeine Freunde es ja auch mit geweſen ſind, die einer praktiſchen Betätigung, die Verſchuldung der Arbeiter zu verhindern, ent⸗ gegengewirkt haben, indem ſie nicht mit dazu bei⸗ trugen, die Arbeitsloſenverſicherung hier in geeigneter Form zuſtande zu bringen. Herr Kollege Stadt⸗ hagen, wenn Sie dem Arbeiterſtand nützen, wenn Sie ihm helfen wollen, ſo möchte ich Sie darauf aufmerk⸗ ſam machen, (Zuruf: Sie haben ja die Vorlage abgelehnt!) — Herr Kollege Rothholz, wenn Sie wünſchen, gehe ich auch darauf ſehr gern ein — daß in Zeiten der Arbeitsloſigkeit die Verſchuldung am eheſten eintritt, zum mindeſten in die größte Möglichkeit gerückt iſt. (Sehr richtig!) Wir haben als eine wirkſame Unterſtützung der Ar⸗ beitsloſen das Genter Syſtem angeſehen, das ſich wo anders auch bewährt hat, und Sie haben dieſe einzio mögliche und durchgreifende Maßnahme gegen die Folnen der unverſchuldeten Arbeitsloſigkeit mit Ver⸗ ſchlechterungen bedacht, die uns die Annahme der Vor⸗ lage dann unmöglich machte, und zwar nicht nur un⸗ allein, ſondern auch einem Teil Ihrer Freunde un⸗ möglich machte; denn Ihre Freunde haben ſie ja mit abgelehnt. Ich kann den Herren nicht den Vorwurf erſparen, daß ſie das aus reiner Feindſchaft gegen ie getan haben, aus nichts anderem! es die Gewerkſchaften getan h , ſtimmt haben. Und Leute, die es in der Praris ſo (Stadtv. Erdmannsdörffer: Deshalb brauchten Sie doch die zweite Vorlage nicht abzulehnen!) 103 — Die war noch ſchlechter; das wäre ſo ein Ding ge⸗ weſen, wie es ſich jetzt Herr Kollege Stadthagen für den Mittelſtand denkt, und nichts anderes. Das, was Herr Kollege Stadthagen für den Mit⸗ telſtand wünſcht, was er da für große ſoziale Probleme aufgerollt hat, dieſe großen Fragen, wie den Hand⸗ werkern Maſchinen, und zwar billig, zu beſchaffen ſind, Herr Kollege Stadthagen, das ſind Dinge, die Sie auch mit der Erfüllung dieſes Antrages nicht löſen können. Da mögen Sie einen Magiſtrat haben, 500 noch zehnmal weiſer iſt als der, den wir jetzt aben; (Heiterkeit) er wird aus dieſem Antrag nach ſeinen Erfahrungen teine geeigneten Maßnahmen herausdeſtillieren können. Wiſſen Sie nicht, daß einem Teil von Hand⸗ werkern, namentlich ſolchen, die in Innungen orga⸗ niſiert ſind, gar nichts daran liegt, Maſchinen zu be⸗ kommen? Wenn ich nicht irre, hat eine Schuhmacher⸗ innung, die im Thüringiſchen ſitzt, beſchloſſen, daß jeder Meiſter ihrer Innung, der eine Beſohlmaſchine einführt, für ſeinen Betrieb ſo und ſo viel Strafe an die Innung zu zahlen hat. So und ſo viel Leute wollen von Maſchinen nichts wiſſen, weil ſie in ihrer Anwendung den Untergang des Handwerks erblicken, — eine meiner Anſicht nach verkehrte Anſchauung, die aber vorhanden iſt. Sie haben ungeheuer viel Einzelfragen mit ihrem Antrag angeregt, Herr Kollege Stadthagen. Ich ſpreche Ihnen den guten Willen nicht ab; aber bei Ihnen iſt die Phantaſie mit dem guten Willen durch⸗ gegangen; Sie haben die Wirklichkeit hinter ſich ge⸗ laſſen und merken nicht, daß Sie mitten drin ſtehen in den Beratungen eines Etats, der 110 % anfordert. Sie wollen keine 10% mehr geben, aber für den Handwerkerſtand, für den leidenden Mittelſtand und für alle, die Schulden machen müſſen, eine Entſchul⸗ dung durch die Stadt herbeiführen. Ich muß offen ge⸗ ſtehen: ganz klug bin ich aus der Begründung des Antrags nicht geworden, und das hindert mich, ihm zuſtimmen zu können. Aber ich muß vor allen Dingen eins noch hervorheben. Sie haben die ganze Geſchichte an der vertehrten Stelle angefaßt; das entſpricht freilich ihrer Anſchau⸗ ung von den wirtſchaftlichen und politiſchen Verhält⸗ niſſen überhaupt. Sie wollen an den Uebeln, an denen der Mittelſtand leidet, und die von uns offen zugegeben werden, herumdoktern, indem ſie einzelne Folgen derſelben bekämpfen. Aber die Urſachen der Mißſtände, über die der Mittelſtand zu klagen hat, liegen nicht in der Verſchuldung, ſondern ſind in den wirtſchaftlichen Verhältniſſen begründet, und ſo lange Sie dieſe nicht ändern können, werden Sie auch der Verſchuldung des Mittelſtandes kein Ende machen können. Wir haben einmal, als die Verſicherungsgeſetze im Reichstage beraten wurden, einen Weg gewieſen, wie in geringem Umfange dem Handwerkerſtande wieder geholfen werden könnte. Wir wollten die Ein⸗ beziehung des ganzen Handwerker⸗ und Mittelſtandes bis zu einem Einkommen von 5000 ℳ in die Ver⸗ ſicherungsgeſetzgebung des Reiches. Da waren Sie es und Ihre Freunde, die dagegen geſprochen und ge⸗ wenig ernſt mit dem Mittelſtand und ſeiner Lage meinen, ſtehen bei uns nicht in ſo großem Anſehen,