140 Sitzung vom offen: iſt es ſo etwas Unbilliges, zu verlangen, daß der einfache Büraer, auch wenn er wenig bemittelt iſt, für einen Liter Milch, den der Säugling doch höch⸗ ſtens pro Tag gebraucht, eine kleine Summe bezahlt? Würde er z. B. nur 10 Pfg. für den Liter zahlen, ſo würde die Stadt noch 22 Pf. Schaden dabei haben. Man wird doch gewiß verlangen können, daß der Vater für die Erhaltung ſeines Kindes dieſe Lei⸗ ſtung auf ſi“ nimmt. Meine Herren, wir ſind der Anſicht, daß es durchaus notwendig iſt, hier durch eine ſolche Her⸗ abſetzung der Ausgaben gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen, daß die ſoziale Fürſorge nicht die Sorge für die Erhaltung, das Pflichtgefühl des einzelnen ausſchließen ſoll. Es iſt nicht richtig, wenn man den einfachen Bürger, den Arbeiter daran gewöhnt, daß lediglich die Allgemeinheit dafür zu ſorgen hat, (Sehr richtig!) ſondern es muß nach unſerer Weltanſchauung das Pflichtgefühl des einzelnen, des Vaters, der Mutter, für den Säugling ſelbſt zu ſorgen, durchaus erhal⸗ ten werden. Wenn wir 38 000 ℳ im Jahre ledig⸗ lich für die Abgabe von Säuglingsmilch ausgeben, ſo, meine ich, haben wir in vollem Maße unſere Schuldigkeit getan. Ich verſtehe nicht, wie man an⸗ geſichts eines Etats von 176 000 ℳ für Säuglings⸗ fürſorge und angeſichts der Ausgaben für die geſamte Volksgeſundheitspflege in Charlottenburg im Ver⸗ gleich mit anderen Kommunen den Vorwurf man⸗ gelnden ſozialen Empfindens machen kann, wie es wenigſtens dem Sinne nach Herr Kollege Dr. Borchardt tat. Dieſen Vorwurf muß ich für meine Fraktion auf das entſchiedenſte zurückweiſen. Das iſt ein Vorwurf, der gerade angeſichts der Haltung der liberalen Fraktion gegenüber den ſozialen Auf⸗ gaben ſeit Jahren als höchſt ungerecht zu bezeich⸗ nen iſt. (Bravo! bei den Liberalen.) Stadtv. Hirſch: Meine Herren! Ich mache Herrn Kollegen Wöllmer und allen denen, die auf demſelben Standpunkt wie er ſtehen, nicht nur dem Sinne nach, ſondern expressis verbis den Vorwurf mangelnden ſozialen Pflichtgefühls. (Stadtv. Wöllmer: Sehr billig!) — Sehr billig? Warten Sie ab! Herr Kollege Wöllmer meinte, auf ſozialem Gebiete müßten wir unſere Aufgaben in Einklang bringen mit den Ge⸗ ſamtintereſſen der Stadt. Ganz recht, das iſt unſere Meinung auch. Wenn wir das aber wollen, dann dürfen wir nicht die Bremſe da anlegen. wo es Herr Kollege Wöllmer verlangt hat, ſondern dann müſſen wir im Gegenteil auf ſozialem Gebiete immer vor⸗ wärts ſchreiten. Denn wenn auch in Charlottenburg ſchon vieles geſchehen iſt und wenn ich unumwunden zugebe, daß bei uns mehr geſchehen iſt, als in den meiſten anderen Kommunen. (Stadtv. Wöllmer: Hört, hört!) — Jawohl, Herr Kollege Wöllmer, ſehr oft gegen Ihren Willen —, ſo kann man doch nicht ſagen, daß wir bereits an der Grenze unſerer Leiſtungsfähigkeit angekommen ſind und unſere Pflicht in vollem Maße erfüllt haben. 6. März 1913 Herr Kollege Wöllmer ſagt: was ſpielen die 7000 ℳ für eine Rolle; die bedeuten bei dem Millionenetat gar nichts. Gewiß, eine Summe von 7000 ℳ ſpielt bei dieſem Etat keine Rolle; aber cha⸗ rakteriſtiſch für Sie iſt es, daß Sie gerade hier den Hebel anſetzen und Abſtriche vornehmen wollen. Es iſt charakteriſtiſch für Ihr mangelndes ſoziales Ver⸗ ſtändnis, daß Sie überhaupt den Mut haben, bei den Ausgaben zur Bekämpfung der Säuglingsſterblichkeit zu kürzen. Herr Kollege Wöllmer meinte, als Haus⸗ väter der Stadt müſſten wir Vorſorge treffen, wir dürften da nicht einzig und allein ſoziale Aufgaben erfüllen. Es gibt Hausväter, die ſehr ſparſam ſind und damit den Intereſſen ihrer Familien am beſten dienen; es gibt aber auch Hausväter, die geizig, ſpar⸗ ſam an falſcher Stelle ſind und damit die Intereſſen ihrer Familie vernachläſſigen. Als Hausvater, der Sparſamkeit am falſchen Platze übt, hat ſich eben Herr Kollege Wöllmer enthüllt. Gerade hier iſt der unangebrachteſte Ort, zu ſparen. Es wird Ihnen ja nicht unbekannt ſein, daß die Beſtrebungen zur Bekämpfung der Säuglingsſterb⸗ lichkeit in den weiteſten Kreiſen der Bevölkerung ein⸗ geſetzt haben; es wird Ihnen nicht unbekannt ſein, daß ſelbſt ſolche Gemeinden, die ſonſt nichts auf ſo⸗ zralem Gebiete tun, wenigſtens verſuchen, der Säug⸗ lingsſterblichkeit Einhalt zu gebieten. Wenn wir auf dieſem Gebiete die Bremſe anſetzen, wenn wir hier dem Magiſtrat ſagen, er dürfe nur bis zu einer be⸗ ſtimmten Grenze gehen, ſo ſchädigen wir unſere Stadt auf das allerempfindlichſte. Ich glaube auch nicht, daß wir die 7000 ℳ, die wir ſtreichen, ſparen werden; es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe 7000 ℳ an anderer Stelle ſpäter in den Ausgaben wiederkehren, weil der Krankenetat, der Armenetat vielleicht um das Doppelte und Dreifache ſeiner jetzigen Summe erhöht werden muß. Das bitte ich die Herren zu bedenken. Und wenn Sie ſich Ihre Haltung noch einmal überlegen, dann müſſen Sie zu der Erkenntnis kommen: es iſt falſch, hier Abſtriche vorzunehmen, und dann werden Sie mit uns dem Magiſtrat dieſe Summe bewilligen müſſen. Herr Kollege Wöllmer ſagt, daß die ſoziale Für⸗ ſorge nicht die Verpflichtung der Väter ausſchließen ſolle, für ihre eigenen Kinder zu ſorgen. Gewiß, Herr Kollege Wöllmer, darin ſtimme ich Ihnen un⸗ umwunden zu, und gerade die Arbeiter, die zu unſerer Partei gehören, ſind ja von Anfang an durch ihre Organiſation dazu erzogen, daß ſie in erſter Linie ſelbſt ihre Pflicht tun und ſich nicht auf die Hilfe anderer verlaſſen. Wenn Herr Kollege Wöllmer ſich einmal in die Praxis hineinbegibt, wird er finden, daß es gerade die organiſierten Arbeiter ſind, die ſich weigern, auch nur die geringſte Unterſtützung von der Stadt anzunehmen, die es ablehnen, wenn ihnen Kindermilch unentgeltlich angeboten wird. Es handelt ſich alſo nicht um die Schichten, die hinter un s ſtehen, ſondern um andere Schichten, und wir wün⸗ ſchen auch, daß jeder Vater von der Notwendigkeit durchdrungen wäre, ſelbſt für ſeine Kinder zu ſorgen. Aber einmal müſſen wir mit der Tatſache rechnen, daß es leider noch Väter gibt, die nicht von dieſem Gefühl durchdrungen ſind, und dazu kommt die große Zahl der Väter, die nicht imſtande ſind, in ausrei⸗ chender Weiſe für die Ernährung ihrer Kinder zu ſorgen. (Sehr richtig!) Ich ſehe da ganz von den vielen Kindern ab, die keinen Vater mehr haben.