Sitzung vom 10. Arbeitsgelegenheit und damit auch die Zahl der den Krankenkaſſen angemeldeten Mitglieder zunimmt. Jetzt müſſen wir das Umgekehrte konſtatieren, und das läßt uns wiederum darauf ſchließen, daß ſich die Situation im Herbſt und im Winter nach ganz be⸗ deutend verſchärfen wird. Dazu kommt, meine Herren, daß in einer für unſer Wirtſchaftsleben ſehr wichtigen Induſtrie, der Bauinduſtrie, ſchon ſeit ge⸗ raumer Zeit eine chroniſche Kriſe herrſcht. Die Bau⸗ induſtrie und die darin beſchäftigten Arbeiter ſind davon auf das härteſte betroffen. Wir haben feſt⸗ ſtellen müſſen, daß von den Bauarbeitern nahezu 23 % arbeitslos ſind, und zwar arbeitslos über Zeit⸗ räume von 13, 14, 20 Wochen und noch mehr. Jeder einzelne von Ihnen, der ſich ein kleines Bild davon machen kann, was eine ſo lange Arbeitsloſigkeit für den Arbeiter bedeutet, wird zugeben müſſen, daß es dringend nötig iſt, für die Arbeitsloſen etwas zu tun. Dieſe Erkenntnis hat ſich auch weit über die Kreiſe meiner Parteifreunde hindurch Bahn ge⸗ brochen, und allenthalben wird anerkannt, daß jetzt etwas getan werden muß. Bisher haben ſich ja — das iſt Ihnen auch nicht unbekannt — le die Arbeiter ſelbſt durch ihre gewerkſchaftlichen Organiſa⸗ tionen der Arbeitsloſen angenommen, während die öffentlichen Körperſchaften, die Kommunen ſich dann erſt gemüßigt geſehen haben, für Arbeitsloſe etwas zu tun, wenn ſie ſoweit herunter waren, daß ſie Armenunterſtützung in Anſpruch nehmen mußten. Meine Herren, die Leiſtungen, die die Gewerkſchaften für ihre Arbeitsloſen machen, ſind in der letzten Zeit ganz enorm geſtiegen. Im Jahre 1912 haben die Zentralverbände allein 8,9 Millionen Mark an Ar⸗ beitsloſenunterſtützung ausgezahlt und hier in Berlin von dieſer Summe allein 2,1 Millionen. Hierzu kommt die in Berlin von den Gewerkſchaften gezahlte Krankenunterſtützung im Betrage von 1,7 Millionen Mark. Die Tatſache, daß bisher die Arbeiter auf ſich ſelbſt geſtellt waren, iſt ja allgemein anerkannt. Aber es iſt des öfteren ſchon betont worden, daß die Kraft der Arbeiter der großen Arbeitsloſigkeit gegenüber verſagt und verſagen muß, daß die Mittel, die die Arbeiter aus ſich heraus aufbringen können, den An⸗ forderungen nicht gewachſen ſind. Es iſt intereſſant, darauf hinzuweiſen, daß ſelbſt liberale Blätter, ſo das Berliner Tageblatt, die Frage aufwerfen, was jetzt getan werden ſoll. Das Tageblatt äußert ſich dazu folgendermaßen: Bisher hat man die Arbeitsloſenfürſorge faſt ausſchließlich der Selbſthilfe der Arbeiter über⸗ laſſen, und die Organiſationen der deutſchen Arbeiterſchaft haben alljährlich Millionen auf⸗ gewendet, um die arbeitsloſen Kollegen zu unterſtützen. Dieſe Tatſache ſollten auch unſere politiſchen und gewerkſ chaftlichen Scharfmacher berückſichtigen, die in den Gewerkſchaften nur ſtaatsfeindliche Elemente ſehen. Die Gewerk⸗ ſchaften können von ſich aus aber auf die Dauer das Uebel nicht allein lindern, zumal auch zahl⸗ reiche Arbeitsloſe einer Organiſation nicht an⸗ gehören. Hier hat die Geſellſchaft die ſtttliche Pflicht, einzugreifen. Es iſt allerdings nicht geſagt, meine Herren, welche Geſellſchaft hier eingreifen ſoll. Ob hiermit die libe⸗ rale Geſellſchaft gemeint iſt, weiß ich nicht. Aber nach dem Intereſſe, das Sie dem jetzt zur Debatte ſtehenden Punkt entgegenbringen, ſcheint mir, als wenn ſich das liberale Berliner Tageblatt an eine September 1913 325 andere Geſellſchaft wendet. [(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Unſer Antrag verlangt in ſeinem erſten Teil, daß alle Arbeiten, für die das Hoch⸗ und Tiefbauamt die Mittel bewilligt erhalten hat, ſchleunigſt in Angriff genommen werden. Ich will bei dieſer Gelegenheit nicht dem Magiſtrat irgendwie eine Unterlaſſungs⸗ ſünde vorwerfen, ſondern möchte nur beſonders be⸗ tonen, daß der Antrag, wenn er angenommen wird, doch auch in ſinngemäßer Weiſe zur Ausführung kom⸗ men muß, indem bei der Ilegtoung der ſtädtiſchen Bauten den Unternehmern zur Pflicht zu machen iſt, in erſter Linie ortsanſäſſige Arbeiter zu berückſichti⸗ gen und die gegenwärtige wirtſchaftliche Depreſſion nicht dazu zu benutzen, die Arbeitslöhne herunterzu⸗ drücken. Das Schwergewicht legen aber meine Freunde auf den zweiten Teil des Antrages. Wenn wir hier fordern, daß der Magiſtrat erſucht wird, erneut eine Vorlage einzubringen, die auf Grund des Genter Syſtems Arbeitslofenunterſtützung gewährt, ſo iſt es ja nicht nötig, daß wir uns zur Vegrünvung dieſes Antrages ſpeziell an die Adreſſe des Magiſtrats wen⸗ den, ſondern es iſt nötig, daß wir uns an die Mehr⸗ heit dieſes Hauſes wenden. Der Magiſtrat hat ja bewieſen, daß er in dieſer Richtung etwas tun wollte, während die Mehrheit des Hauſes dieſen Weg un⸗ gangbar gemacht hat. Das Genter Syſtem iſt nach allen Richtungen hin erörtert und beſprochen worden. Man kann aber feſtſtellen, daß die Widerſtände, die gegen dieſes Prinzip vorhanden ſind, doch an den ver⸗ ſchiedenſten Stellen zu ſchwinden beginnen. Ich will nur daran erinnern, daß ſich die Stadt Neukölln entſchloſſen hat, einen Antrag an den Zweckverband zu richten, der eine Arbeitsloſenunterſtützung auf Grund des Genter Prinzips vorſieht. Des weiteren iſt auf der letzten Tagung der internationalen Kon⸗ ferenz zur Bekämpfung der Arbeitsloſigkeit, zu der auch die Stadt Charlottenburg einen Vertreter ent⸗ ſendet hatte, feſtgeſtellt worden, daß dieſes Prinzip das allein richtige iſt, dasjenige, das am meiſten den Erfolg verbürgt. Es iſt intereſſant, zu verfolgen, wie dieſes Genter Syſtem an ſeinem Urſprungsort ſelbſt gewirkt hat. Auf der internationalen Konferenz ſtellte der Präſident dieſer Einrichtung in Gent feſt, daß die Zahl der Almoſenempfänger ſich vom Tage der Gründung der Arbeitsloſenkaſſe an fortgeſetzt vermin⸗ dert hat; ſie betrug im Jahre 1900 5879 Perſonen, im Jahre 1912 nur noch 3158. Das iſt, wenn man die Bevölkerungsvermehrung in Betracht zieht, eine Verminderung um rund 50%. Gerade durch dieſe Zahlen wird bewieſen, daß dieſes Syſtem nicht nur einen großen Vorteil für die Arbeitsloſen, ſondern auch für die Gemeinden mit ſich bringt, und daß auch der moraliſche Erfolg dieſer Einrichtung eminent groß iſt. Weil wir annehmen, daß das Vordringen dieſes durchaus geſunden Gedankens ſchließlich auch in Ihrem Kreiſe zu ſpüren ſein wird, haben wir uns veranlaßt geſehen, einen entſprechenden Antrag ein⸗ zubringen. Meine Herren, als die vorige Kriſe tiefße Wun⸗ den unſerm Wirtſchaftsleben und vor allen Dingen den Arbeitern ſchlug, da waren Sie bereit, in Er⸗ wägungen einzutreten, wie man die Not der Arbeits⸗ loſen lindern könnte. Sie haben die Sache hin und her erwogen. Die Kriſis iſt inzwiſchen vorüber⸗