328 Sitzung vom 10. reichen und ſchaffen will. Ich möchte, obwohl dieſes Vorgehen etwas außerordentlich Aufreizendes für uns enthielt, darauf verzichten, hier in gleichem Tone zu antworten, und zwar aus dem Grunde, weil ich die Frage für zu ſchwerwiegend und für zu ernſt halte, um ſie als Gegenſtand einer Parteiagitation zu behandeln. Meine Freunde ſtimmen mit dem Herrn Antrag⸗ ſteller darin überein, daß wir die Arbeitsloſigkeit in der kommenden Zeit in einem Maße und in einem Umfange befürchten, wie ſie ſchon lange nicht vorhanden geweſen iſt. Der Herr Antragſteller hat mit Recht hervorgehoben, daß durch das Darniederliegen des Bau⸗ marktes und durch die Mitleidenſchaft der mit dem Baumarkte verbundenen Geſchäftszweige große, na⸗ mentlich in den Großſtädten betriebene Gewerbe brach liegen und ſchon dadurch eine ganz erhebliche Arbeits⸗ loſigkeit herbeigeführt wird. Aber dieſe Gewerbe ſind nicht die einzigen, in denen ſich eine rückläufige Be⸗ wegung geltend macht, und wenn man auch nicht peſſi⸗ miſtiſch eine allgemeine rückläufige Konjunktur anzu⸗ nehmen braucht, ſo ſteht doch ſoviel feſt, daß die Be⸗ ſorgniſſe, die in der Richtung der Arbeitsloſigkeit ge⸗ äußert werden, ihre tiefe Begründung haben. Meine Herren, wir ſehen auch, daß eine ganze Reihe von Gemeinden Mittel ſucht, um der Arbeits⸗ loſigkeit zu begegnen, und, was beſonders zu erwähnen iſt, daß darüber hinaus ſich jetzt auch zum erſtenmal eine Staatsregierung daran macht, dieſer Frage prak⸗ tiſch näher zu treten. Sie wiſſen, daß die bayriſche Staatsregierung erklärt hat, die Arbeitsloſenverſiche⸗ rung in den Kreis ihrer Erwägungen ziehen zu wollen, und hiermit iſt der Weg begangen, den wir grundſätz⸗ lich als den richtigen anerkennen, nämlich eine Arbeits⸗ loſenverſicherung in einem weiteren Gebiete als dem der einzelnen Kommune ins Werk zu ſetzen. Wir ſind allerdings der Meinung, daß dieſes Gebiet das denk⸗ bar weiteſte ſein ſollte, wenn ein Erfolg erzielt werden ſoll, daß nämlich — und darin ſtimme ich ſowohl mit dem Herrn Kollegen Richter wie mit dem Herrn Kol⸗ legen Ir Stadthagen überein — die Arbeitsloſenver⸗ ſicherung in erſter Linie Reichsſache iſt. Aber wir können angeſichts der ganzen Situation mit unſern Maßnahmen nicht warten, bis das Reich, wie es in der diplomatiſchen Sprache heißt, dieſe Frage „in den Kreis der Erwägungen“ zieht. Die Gemein⸗ den dürfen nicht zuſehen, wie ihre Mitbürger durch un⸗ verſchuldete Arbeitsloſigkeit einer traurigen Lage aus⸗ geſetzt werden, und ich bin mit meinen Freunden gern geneigt, jeden Vorſchlag anzunehmen, den wir als wirkſam anſehen, um dieſer ſchweren und nach aller Möglichkeit zu vermeidenden Notlage zu entgehen. Daher werden wir dem Antrag, den die Herren von der ſozialdemokratiſchen Fraktion unter Nr. 1 geſtellt haben, zuſtimmen, und wir bitten den Magiſtrat, dieſem Beſchluſſe, der ja wohl auch nach den Ausfüh⸗ rungen des Herrn Kollegen Dr. Stadthagen einmütig gefaßt werden wird, möglichſt ſchnell Folge zu geben, damit nicht erſt, wenn die Depreſſion ihren Höhepunkt erreicht hat, eine wirkſame Abhilfe eintritt, ſondern ſchon eine Vorbeugung ſtattfindet. Der Herr Bürger⸗ meiſter wird vielleicht in der Lage ſein, uns bereits über die Pläne, die der Magiſtrat in dieſer Richtung hat, berichten zu können. Dagegen können meine Freunde den zweiten Teil des Antrags nicht annehmen, und zwar einerſeits deshalb, weil wir in dem Erſuchen an den Magiſtrat um die Einführung einer Charlottenburger Arbeits⸗ loſenverſicherung nach Genter Syſtem kein Mittel zu einer raſchen Löſung der Sache ſehen, anderſeits, September 1913 weil wir den gegenwärtigen Zeitpunkt — wenige Tage vor der Groß⸗Berliner Konferenz — für kein:s⸗ falls geeignet halten, für uns allein Beſchlüſſe zu faſſen, die uns prinzipiell für ein beſtimmtes Syſtem ſeſtlegen. Ich beabſichtige nicht, mich heute über das Genter Syſtem, ſeine Vorzüge und Nachteile auszu⸗ laſſen. Aber das ſcheint mir unbedingt feſtzuſtehen, daß eine raſche Löſung, die der bevorſtehenden Not⸗ lage abhilft, durch einen ſolchen Beſchluß nicht ge⸗ funden werden kann, und das geht ſchon aus den bis⸗ herigen Erfahrungen in unſerem engeren Kreiſe hervor. Meine Herren, es iſt vom Magiſtrat zweimal eine Vorlage wegen der Arbeitsloſenverſicherung ein⸗ gebracht worden. Die erſte Vorlage iſt damals von der Stadtverordnetenverſammlung mit einer weſent⸗ lichen Abänderung angenommen worden, und das hat den Magiſtrat nachher veranlaßt, der Vorlage ſeine Zuſtimmung nicht zu geben. Das zweitemal iſt die Vorlage des Magiſtrats von der Stadtverordneten⸗ verſammlung abgelehnt worden, und wenn Herr Kollege Richter es heute ſo darſtellt, als ob die bürgerliche Mehrheit der Stadtverordnetenverſamm⸗ lung die Bemühungen des Magiſtrats zunichte ge⸗ macht hat, dann wird es ihn vielleicht intereſſteren, zu hören, daß neben einem Teil der Liberalen und neben einem Teil der Vereinigten alten Fraktion die geſamte ſozialdemokratiſche Fraktion damals die Vorlage des Magiſtrats abgelehnt und daß ſich unter den Ablehnenden auch insbeſondere Herr Kollege Richter befunden hat. (Stadtv. Wilk: Ja warum?) — Warum? Das wird ja hoffentlich der Herr Kollege Richter wiſſen. (Stadtv. Wilk: Das iſt Ihnen eben unklar geblieben!) Jedenfalls hat der Herr Kollege Richter vorhin den Magiſtrat derartig gelobt, daß es nach außen hin ein Vergehen zu ſein ſchien, daß man ſeine Vorlagen nicht angenommen hat. Darum ſtelle ich rein ſachlich, ohne jede Polemik, feſt, daß die letzte Vorlage des Magiſtrats nicht nur von einigen Mitgliedern der liberalen Fraktion und der Vereinigten alten Fraktion, ſondern von ſämtlichen Mitgliedern der ſozialdemo⸗ kratiſchen Fraktion abgelehnt worden iſt, wie die namentliche Abſtimmung vom 13. November 1912, glaube ich, erweiſt. Meine Herren, wenn Sie dieſe hiſtoriſchen Er⸗ eigniſſe betrachten, wenn Sie außerdem erwägen, wie lange die Vorbereitung dieſer geſamten Beſchluß⸗ faſſungen in der dazu eingerichteten Deputation in Anſpruch genommen hat, dann werden Sie ermeſſen, wie ſchwer es iſt, auf ſolchem Wege zu einem poſitiven Ergebnis zu kommen. Aber es kommt hier noch eins hinzu. Selbſt wenn dieſes Ergebnis erzielt wird, dann wird nicht das erreicht, was wir alle, wie ich annehme, wollen, nämlich die Verſicherung ſämtlicher notleidenden Ar⸗ beitsloſen, und darin ſtimme ich — Herr Kollege Richter hat ganz irrig einen Widerſpruch zwiſchen unſerer Haltung und dem von ihm verleſenen Artikel des Berliner Tageblattes zu konſtruieren verſucht — durchaus dem Artikel des Berliner Tageblattes bei. Gerade diejenigen, die nicht organiſiert ſind, werden durch das Genter Syſtem nicht geſchützt; gerade dieſe haben aber den Anſpruch, daß ihnen geholfen wird;