94 — Bitte, wollen Sie ſo freundlich ſein, einmal unſere Statiſtik durchzuleſen. In Wilmersdorf wer⸗ den Häuſer mit kleinen Wohnungen, die für die Armenbevölkerung in Betracht kommen, überhaupt nicht gebaut. Dort wohnen die Armen, ſoweit ſie öffentlich unterſtützt werden, in alten Baracken, in denen naturgemäß die Mietspreiſe billiger ſind als in neuen Häuſern, während bei uns die offizielle Statiſtik, die von der Armenverwaltung heraus⸗ gegeben iſt, nachweiſt, daß die Armen gezwungen ſind, für Wohnungsmieten höhere Preiſe anzuwen⸗ den, als ſolche Perſonen, die keine Armenunter⸗ ſtützung bekommen, für die gleiche Wohnung zu zahlen haben. Der Unterſchied in den Mietspreiſen erklärt auch den großen Unterſchied, der in den Aus⸗ gaben zwiſchen Charlottenburg und Neukölln beſteht. In Neukölln kommt auf den Kopf der Bevölkerung an laufenden Unterſtützungen nur 10,90 ℳ, alſo erheblich weniger als bei uns. Das iſt in den Ver⸗ hältniſſen begründet. Wir werden das nicht ändern können, ſolange wir nicht dafür ſorgen, daß die Ur⸗ ſachen der Armut aus der Welt geſchafft werden, und dazu ſind wir einſtweilen noch nicht imſtande. Nun hat der Etatsausſchuß eine Reſolution be⸗ antragt, die den Magiſtrat erſucht, auf die Armen⸗ kommiſſionsvorſteher dahin einzuwirken, daß die zu gewährenden Barunterſtützungen nicht über das Maß deſſen hinausgehen, was zur Hebung einer dringen⸗ den Notlage erforderlich iſt. Dieſe Reſolution be⸗ deutet ein Mißtrauensvotum gegen die Herren Ar⸗ menkommiſſionsvorſteher, das die Herren wahr⸗ haftig nicht verdient haben. Wer die Tätigkeit der Armenkommiſſionsvorſteher aus eigener Anſchauung kennt, wer da weiß, wie ſorgfältig ſie jeden einzelnen Fall unterſuchen, der kann unmöglich einer der⸗ artigen Reſolution zuſtimmen. Das wird natürlich immer vorkommen, daß der eine oder andere Armenkommiſſionsvorſteher dieſem oder jenem zu viel gibt, nicht etwa, weil er den Fall nicht geprüft hat, ſondern weil er ſelbſt getäuſcht wird; denn gegen Betrug iſt kein Menſch geſchützt. Aber ſoll ich des⸗ wegen, weil der eine oder andere ſich mal zu viel er⸗ ſchlichen hat, dem wirklich Bedürftigen noch weniger geben, als zur Hebung der Notlage dringend erfor⸗ derlich iſt? Und mehr bekommen die Armen heute auch ſchon nicht; es wird jeder einzelne Fall genau geprüft, und ich glaube nicht, daß es Ihnen möglich iſt, mir ein halbes Dutzend Fälle aus ganz Char⸗ lottenburg nachzuweiſen, in denen jemand als ein⸗ malige oder laufende Unterſtützung mehr bekommen hat, als zur Hebung der dringenden Notlage erfor⸗ derlich iſt. Wenn Sie die Reſolution annehmen, würden Sie zugeben, daß unſere Armenkommiſſions⸗ vorſteher heute zu viel geben, daß ſie über das hin⸗ ausgehen, was das Geſetz vorſchreibt, und das wäre ein Vorwurf gegen die Armenkommiſſionsvorſteher, den ſie wahrhaftig nicht verdient haben. Ich kann Sie alſo im Intereſſe unſerer Ehrenbeamten, die wirklich eine hervorragend tüchtige Arbeit für die Stadt leiſten, nur dringend bitten, der Reſolution nicht zuzuſtimmen. Weiter möchte ich Sie um Annahme unſeres Antrages erſuchen. Meine Herren, was hat es für einen Zweck, wenn Sie heute den Betrag um 100 000 Mark kürzen und Sie würden über kurz oder lang eine Magiſtratsvorlage bekommen, worin der Ma⸗ giſtrat erſucht, die 100 000 ℳ nachzubewilligen? Wahrſcheinlich würde dann die Nachbewilligung her durchaus pflichtmäßig gehandelt haben. wegen des Anwachſens der Armenlaſten in Char⸗ lottenburg von Jahr zu Jahr, wegen des Verhält⸗ niſſes, in dem unſere Armenlaſten zu denjenigen der anderen Vororte ſtehen — die Zahlen des Herrn Sitzung vom 26. Februar 1914 noch höher ſein. dann iſt es eine verkehrte Etatsaufſtellung, eine Wenn wir das aber vorausſehen, Etatsaufſtellung, die wir nicht veranworten können, wenn wird trotzdem die 100 000 ℳ abſetzen. Ich kann Sie nur nochmals dringend bitten, die Po⸗ ſition wieder herzuſtellen. Stadtv. Meyer: Meine Herren! Der Beſchluß des Etatsausſchuſſes, im Armenetat bei den baren Unterſtützungen 100 000 ℳ abzuſtreichen, hat im Kreiſe meiner Freunde zu lebhaften Erwägungen Anlaß gegeben. Wir erkennen mit der Mehrheit des Etatsausſchuſſes an, daß die Grundſätze einer rationellen Finanzgebarung auch auf dem Gepiete des Armenetats Anwendung finden müſſen. Es darf niemals außer Acht gelaſſen werden, daß die Auf⸗ gaben der öffentlichen Armenpflege ſich von den Auf⸗ gaben der charitativen Fürſorge weſentlich unter⸗ ſcheiden. Die öffentliche Armenpflege dient dem ſtaatlichen Intereſſe und nur ihm, und darf infolge⸗ deſſen nicht über das Maß des Notwendigen hinaus Unterſtützungen gewähren, während ſich die chari⸗ tative Fürſorge an den Mitmenſchen als ſolchen wendet und über die notwendigſte Hilfe hinaus ihm nach Möglichkeit Heilung bringen will und ſoll. Dieſer Standpunkt muß um ſo nachdrücklicher feſt⸗ gehalten werden, als es auch keineswegs im Sinne einer geſunden Sozialpolitik liegen würde, ſtädtiſche Almoſenempfänger heranzubilden, ganz abgeſehen von dem Geſichtspunkt, daß wir der Allgemeinheit der Bürgerſchaft gegenüber verpflichtet ſind, eine Politik zu treiben, die nicht gerade einen Anreiz für den Zuzug armer Bevölkerung bietet. Trotzdem, meine Herren, ſind wir nicht in der Lage, dem Abſtrichbeſchluſſe des Etatsaus⸗ ſchuſſes zuſtimmen. Nach den Erklärungen, die der Herr Oberbürgermeiſter namens des Magiſtrats abgegeben hat, können wir die Zu⸗ ſtimmung ſachlich nicht verantworten. Die Zuſtimmung würde hiermit zu einer bloßen Demon⸗ ſtration herabſinken, die aber meiner Fraktion fern liegt. Wir wollen, wie ich ſagte, daß auch in der Armenpflege ſparſam gewirtſchaftet wird: wir wollen aber am allerwenigſten, daß in der Armen⸗ verwaltung knapp gewirtſchaftet wird, und es fehlt an jedem Beweiſe, daß bisher in der Armen⸗ pflege eine zu verſchwenderiſche Wirtſchaft ſtattae⸗ funden hat. Aus dieſen Gründen iſt die große Mehrheit meiner Fraktion entſchloſſen, für den Antrag, den Herr Kollege Hirſch eingebracht hat, zu ſtimmen; wir hätten ihn, wenn er nicht von der ſozialdemokratiſchen Fraktion eingebracht worden wäre, unſererſeits geſtellt. Meine Herren, ich komme jetzt zu der Reſo⸗ lution des Etatsausſchuſſes. Wenn wir dieſe Reſo⸗ lution trotz dem, was ich ſoeben ausgeführt habe, annehmen, ſo ergibt ſich aus dem Geſagten, daß dieſe Reſolution in meinen Augen nicht etwa in dem Wunſche nach einer Syſtemänderung gipfelt. Wir bezweifeln auch nicht — und darin ſtimme ich den Ausführungen des Herrn Kollegen Hirſch vollſtändig zu —, daß die Ehrenbeamten der Armenverwaltung bei der Gewährung von Unterſtützungen ſchon bis⸗ Aber