Sitzung vom 14. Oktober 1914 Aber gemäß der ganzen Tendenz, aus der heraus ich die Vorlage betrachte, habe ich natürlich den ernſten Willen, in allen Fällen, ſo weit es irgend angängig iſt, nicht von den Normalſätzen abzu⸗ weichen. Gewiß kann es vorkommen, daß in einem Haushalt von vier Kindern drei krank ſind, daß man dann, wenn ärztliche Hilfe und Medizin not⸗ wendig ſind, über die Normalſätze hinausgehen muß. Das gebe ich zu. Für alle Fälle jedoch, die nicht ganz ausnahmsweiſe ungünſtig liegen, müſſen wir meiner Anſicht nach loyalerweiſe nun auch die Normalſätze innehalten. Ich würde es außerordent⸗ lich bedauern, wenn in der einen Kommiſſion eine andere Auffaſſung in dieſer Beziehung platzgriffe als in der andern. Und das möchte ich ganz beſonders Herrn Kollegen Stadthagen zurufen: die 16 Fami⸗ lien, die bei Ihnen jetzt beſſer ſtehen — oder laſſen Sie es auch noch mehr ſein —, treten weit zurück hinter den Hunderten, die ſchlechter ſtehen. (Stadtv. Dr. Stadthagen: Ich habe nur 22 2 herausgegriffen!) Das eine iſt ſicher, daß gegenüber den bisherigen Grundſätzen, wonach insgeſamt 100 % Zuſchlag zur Reichsunterſtützung das Normale war, die jetzige Vorlage eine große Verbeſſerung für die Familien der Einberufenen in ſich trägt. Wenn das für die Kommiſſion des Herrn Kollegen Stadthagen nicht zutrifft, dann hat ſich dieſe Kommiſſion eben bisher von den Grundſätzen weſentlich entfernt. Für diejenigen Kommiſſionen, die ſich an die Grundſätze halten zu müſſen glaubten, trifft es unzweifelhaft zu. Im übrigen, meine Herren, bleibt ja für die Individualiſierung, ſoweit ſie noch notwendig iſt, genug Spielraum durch die Freiheit in der Anrech⸗ nung ſonſtiger Leiſtungen, etwa von Schulſpei⸗ ſungen, Milchgewährung und dergleichen. Ich ſtimme hier im weſentlichen mit dem Herrn Kol⸗ legen Hirſch überein, wenn ich auch mit der Vor⸗ lage der Meinung bin, daß die von der Stadt mit barem Geld erkauften Leiſtungen angerechnet werden müſſen; denn ſonſt ſchaffen wir wieder eine Un⸗ gerechtigkeit. Inſofern ſcheint mir auch hier ein Schema notwendig zu ſein. Nun komme ich zu der Wirtefrag e. Da wundere ich mich zunächſt über die Frauen von Einberufenen, die ſich von ihren Wirten bedrängen laſſen. Ich muß dem Herrn Büraermeiſter darin beipflichten, daß die Aufklärung über die Rechtloſig⸗ keit der Wirte, über die wir uns ja heute ſchon aus⸗ geſprochen haben, überall erfolgt iſt; ſie iſt heute ſo allgemein bekannt, daß ich mir gar nicht vorſtellen kann, daß ſo etwas noch vorkommt. Aber wenn es an irgendeiner Ecke vorkommt, dann ſoll eben die Aufklärung auch in dieſe Ecke noch verbreitet wer⸗ den, und es wird dann ſchon der Kommiſſion ge⸗ lingen, die Frauen darüber zu unterrichten, daß der Hauswirt nicht die Möglichkeit hat, irgend etwas mit Gewalt gegen ſie zu erreichen. Ganz entſchieden muß ich indes der Auffaſſung des Herrn Kollegen Hirſch entgegentreten, daß wir Bedingungen an den Hauseigentümer ſtellen ſollen, unter denen allein wir den Mietzuſchuß be⸗ willigen. Die Magiſtratsvorlage geht hierin weit genug, indem ſie nicht unbedingt die Kommiſſionen verpflichtet, den Mietzuſchuß zu bewilligen, ſondern ihnen lediglich das Recht dazu gibt. Aber auf der andern Seite wollen wir uns darüber klar ſein, daß wir von dieſem Rechte ſo ziemlich in allen Fällen, in denen überhaupt ein Mietzuſchuß in 297 Frage kommt, Gebiauch machen müßten. Man darf nicht ſagen: der Wirt, der ſich nicht auf eine Nach⸗ laßgewährung einläßt, iſt ein ſchlechter Kerl, iſt ein Mann, der kein Herz hat, und muß deshalb beſtraft werden. Wir können nicht in die Verhältniſſe des einzelnen hineinſehen, können nicht wiſſen, ob der Wirt nicht die vollen 100 % braucht, um ſeinerſeits ſeine Verpflichtungen zu erfüllen. Ich warne da⸗ vor, dem ſehr oft doch bei allem guten Willen nicht maßgeblichen Urteile der Damen, die gerade mit dem Wirt oder dem Verwalter geſprochen haben, zu vertrauen und aus dieſem Urteil eine unbillige Mei⸗ nung über den Wirt herzuleiten. Und es wäre auch eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Einberufenen, deſſen Wirt den Mietsnachlaß ablehnt, wollte man ſeiner Familie deshalb den Mietzuſchuß und damit ihm jede Tilgung der Mietsſchuld vorenthalten. Die zweite Forderung, die Herr Kollege Hirſch vertreten hat, war: wir dürfen nicht dem Wirte direkt den Mietszuſchuß auszahlen. (Widerſpruch des Stadtv. Hirſch.) — Alſo richtiger: wir ſollen nicht in allen Fällen dem Wirt direkt zahlen, ſondern das ſoll von Fall zu Fall verſchieden gehandhabt werden. Herr Kol⸗ lege Hirſch begründet das merkwürdigerweiſe damit: wenn wir dem Hausbeſitzer den Betrag direkt zahlen, ſo müſſen wir kontrollieren, daß er ihn für Hypo⸗ thekenzinszahlung verwendet. Ja, wir geben doch auch häufig Naturalien in der Weiſe, daß wir Gut⸗ ſcheine auf den Fleiſcher oder Bäcker ausgeben und dem Fleiſcher oder Bäcker das Geld von den Zahl⸗ ſtellen angewieſen wird. Denkt in dieſen Fällen ein Menſch daran, zu kontrollieren, ob der Bäcker oder Fleiſcher ſeine Lieferanten bezahlt? Warum wollen Sie durchaus bei den Hauswirten eine Ausnahme zu ihren Ungunſten machen! Dazu liegt meines Er⸗ achtens kein Grund vor. Und wenn Herr Kollege Hirſch weiter meint, es ſei beleidigend für die Frauen, wenn dem Wirt direkt der Zuſchuß gegeben wird, ſo iſt das nur dann richtig, wenn man es in dem einen Falle tut, im andern unterläßt: denn kann in dem Falle, wo dem Hausbeſitzer direkt ge⸗ zahlt wird, die betreffende Frau ſich verletzt fühlen. Führen Sie das aber in Ihren Kommiſſionen ein, unter allen Umſtänden das Geld an den Wirt ab⸗ fließen zu laſſen, dann iſt eine Verletzung der Ehre der einzelnen Mieterin ganz ausgeſchloſſen. Das ſcheint mir ein ganz beſonderer Vorzug des gleich⸗ mäßigen Verfahrens zu ſein. (Stadtv. Hirſch: Wer garantiert denn dafür, daß der Wirt ſich nicht auch noch das andere holt?!) — Ja, die Forderung auf den Reſt bleibt ja dem Wirt! Solange wir vom Fleiſcher oder Bäcker nicht verlangen, daß ſie an die Familien der Einberufenen ihre Waren zu halben Preiſen verkaufen, ſolange dürfen wir von den Hausbeſitzern nicht fordern, daß ſie die Mieten auf die Hälfte herabſetzen. (Sehr richtig!) Für diejenigen Wirte, die es können, die wohlhabend genug ſind, ihren bedürftigen Mietern Vergünſti⸗ gungen zuteil werden zu laſſen, iſt es jetzt patriotiſche Pflicht, das zu tun, (Sehr richtig!) und dieſe Pflicht werden ſie hoffentlich erfüllen. (Scehr richtig!)