Sitzung am 20. Oktober 1915 Antrag des Stadtv. Dr. Liepmann und Gen. betr. Maßnahmen gegen die Lebensmittelteuerung. a en ler Stadtw. Drn Liepmann: Meine Herren! Ueber den Antrag der % Kollegen Hirſch und Genoſſen kann ich mich hier namens meiner Fraktion nicht ausſprechen, weil er uns bei der Vor⸗ beratung noch nicht vorgelegen hat. Perſönlich möchte ich nur kurz bemerken, daß ich mit der Tendenz dieſes Antrages im großen und ganzen einverſtanden bin und nur in bezug auf einige Einzelheiten Zweifel und Bedenken habe, über die ſich auszuſprechen im Aus⸗ ſchuß ja Gelegenheit ſein wird. Was den Antrag des Herrn Kollegen Wöllmer betrifft, ſo bitte ich, dieſen Antrag als den Hauptantrag und unſeren Antrag als einen Zuſatz dazu zu betrach⸗ ten. Zugleich ſtelle ich auch im Namen meiner Freunde den Antrag auf Ausſchußberatung. Wir ſtehen vollkommen auf dem Standpunkt, den Herr Kollege Wöllmer hier zur Begründung ſeines Antrags dargelegt hat. Wir ſind auch der Ueber⸗ zeugung, der der Herr Bürgermeiſter ſchon Ausdruck gegeben hat, daß ſeitens unſerer Stadtverwaltung alles geſchehen iſt, um die Lebensmittelnot und die Fleiſchteuerung in unſerer Kommune nach Möglich⸗ keit zu mildern. Wir ſind aber ferner mit dem Herrn Bürgermeiſter der Anſicht, daß die notwendigen Vor⸗ ausſetzungen für ein wirkliches Durchgreifen für die Kommunen noch nicht gegeben ſind, insbeſondere bis zum Erlaß der Verordnung vom 25. September dieſes Jahres noch nicht gegeben waren. Wir ſind ferner der Ueberzeugung, daß in dieſer Beziehung noch mehr geſchehen kann und noch mehr geſchehen muß, und zwar mit Beſchleunigung geſchehen muß. Nur die Reichsregierung kann dieſe Vorausſetzungen ſchaffen, auf denen dann die kleineren wirtſchaftlichen Ver⸗ bände mit Erfolg weiter gegen die Teuerung vorgehen können. Die hinſichtlich der Schaffung der Reichs⸗ prüfungsſtelle getroffenen Maßnahmen erſcheinen ja vielverſprechend; aber die Frage wird wohl mancher von uns ſtellen: konnte eine derartige Maßregel nicht ſchon früher einge⸗ führt werden; wären dadurch nicht viele Fälle von Not und Unterern äh⸗ rung zu verhindern geweſen? Unſer Antrag, meine Herren, bezieht ſich nun nicht gerade auf Lebensmittel, aber auf Bedarfs⸗ artikel, die für einen geordneten Lebensunterhalt ebenſo notwendig ſind wie Lebensmittel, auf die aber wenigſtens nicht ausdrücklich die Verordnung vom 25. September gerichtet iſt. Insbeſondere möchte ich unter dieſe Artikel alles das zählen, was als Feue⸗ rungsmaterial dient, ferner das Leder für die Fuß⸗ bekleidung und ſonſtige Bekleidumgsartikel, Woll⸗ ſachen uſw. Als ſich bei Beginn des Krieges ein plötzliches Aufſchnellen der Preiſe, z. B. beim Leder für die Fußbekleidung, zeigte, haben ſich wohl viele Tauſende insbeſondere der weniger bemittelten Klaſſe geſagt: Nun, warten wir mit Neuanſchaffungen, bis erſt mal wieder geordnete Verhältniſſe herrſchen. Nachdem aber der Krieg ſo lange andauert, zeigt ſich in den Familien die direkte Notwendigkeit, doch Neuanſchaf⸗ fungen oder wenigſtens Ausbeſſerungen vorzunehmen, und dabei ſind hier nun leider Gottes Preiserhöhun⸗ n um das Zwei⸗, ja um das Dreifache feſtzuſtellen. Was ſoll nun eine Frau, meinetwegen eine Krieger⸗ 115 frau, mit ihrer Unterſtützung anfangen, wenn ſich zeigt, daß ſie für ihre Kinder und für ſich neue Stiefel und Anzüge beſchaffen muß und dafür gerade bei Be⸗ ginn des Winters beſonders hohe Aufwendungen machen ſoll. (Zuruf: Das bekommt ſie extral) — Da ſie das extra bekommt, würde die Not dieſer einen Familie, die ſich als gerade beſonders bedürftig an die öffentlichen Kaſſen wendet, behoben ſein; aber die vielen Tauſende, die keine Unterſtützung von Stadt wegen erbitten und bekommen, haben durch dieſe Preiserhöhungen enorm zu leiden. (Sehr richtig!) Meine Herren, wenn wir ein Eingreifen des Staates in die Preisbildung verlangen, ſo geſchieht das ausnahmsweiſe angeſichts der Beſonderheit der Ver⸗ hältniſſe, die in dieſem langwierigen Kriege herrſchen. Wir gönnen jedem Stande ſeinen angemeſſenen Ver⸗ dienſt, und wir wünſchen auch prinzipiell möglichſt wenig behördliche Einmiſchung in die Preisbildung und in die Verteilung der Güter. Andererſeits aber glauben wir, daß es kein Stand ſelbſt billigen wird, wenn ſeine Angehörigen übermäßige Preiſe nehmen und die andere Bevölkerung dadurch übervorteilen. Wir ſind deshalb der Anſicht, daß ſolche Fälle aufge⸗ deckt werden müſſen, daß feſtgeſtellt werden muß, wo dieſe ungehörige Preisbildung anfängt. Wir wollen ferner, ſoweit es notwendig iſt, daß einer ſolchen unge⸗ hörigen Preisbildung die Möglichkeit der Fortexiſtenz durch Feſtſetzung von Höchſtpreiſen auch für andere notwendige Lebensbedarfsartikel wie Lebensmittel entzogen wird. Die Verordnung vom 25. September ſcheint ja nun die Möglichkeit zu geben, daß auch für andere Lebensbedarfsartikel die Preisbildung beaufſichtigt und eventuell reguliert wird. Sollte das nicht der Fall ſein, ſo geht unſer Wunſch dahin, daß durch Vorſtel⸗ lungen bei der Reichsregierung die Möglichkeit für ein derartiges Eingreifen ganz allgemein für alle zum Lebensunterhalt erforderlichen Bedarfsartikel, insbe⸗ ſondere auch für Feuerungsmaterialien geſchaffen wird, deren Preiſe bei dem Herannahen des Winters, da ſie Dringender gebraucht werden, unverhältnismäßig in die Höhe geſchnellt ſind. Meine Herren, vor allen Dingen ſind wir der Anſicht, daß Das, was geſchieht, möglichſt ald ge⸗ ſchehen muß. Das laisser faire, laisser aller, Jas eine lange Zeit hindurch von unſerer Staatsregierung beobachtet wurde, hat in vielen Kreiſen nicht nur zu einer Notlage und zur ſchlechten Ernährung geführt, ſondern wünde auch, wenn derartige Zuſtände weiter aufrechterhalten würden, eine ſtarke Erregung in der Bevölkerung hervorrufen. Andererſeits wird ein Vor⸗ gehen in der von uns gewünſchten Richtung nicht nur eine ausreichende Ernährung und Lebenshaltung ſicher⸗ ſtellen, es wird auch die Widerſtandskraft und Kampf⸗ bereitſchaft der Angehörigen derjenigen Bevölkerung, die daheim geblieben iſt, erhöhen und ſtärken und da⸗ durch dazu beitragen, daß durch ein ſiegreiches Fort⸗ ſchreiten und Durchhalten an der Kampffront hoffent⸗ lich ein ehrenvoller und vorteilhafter Frieden in nahe Zukunft gerückt wird. (Bravol)