128 ziehen. Ja, da greift man ſich an den Kopf! Wir hören, daß es uns am Notwendigſten fehlt, wir hören, daß man ſich einſchränken muß, und dann wird in ſo ſchandhafter Weiſe, nur um dem ſchnöden Eigen⸗ nutz zu fröhnen, das Notwendige an Lebensmitteln verwüſtet! Und dann wiſſen wir nicht einmal, ob die verdorbenen Lebensmittel nur als Dung und Schweinefutter verwendet oder nicht auf irgend eine Weiſe auf den bekannten Umwegen der Bevölkerung wieder als Genußmittel zugeführt werden. Es iſt notwendig, daß wir endlich mehr, als es bisher geſchehen iſt, hier Stellung nehmen. Wenn die Magiſtrate längſt erklärt hätten, daß ſie für den Ausbruch von Unruhen keine Verantwortung über⸗ nehmen; wenn ſie längſt erklärt hätten, daß, wenn die Dinge ſo weiter gehen, ſie ſich nicht mehr im⸗ ſtande ſähen, die ihnen übertragenen Kriegsmaß⸗ nahmen zu erfüllen, dann hätte man wohl dieſen For⸗ derungen gegenüber oben ſchon ein geneigteres Ohr gezeigt. Jetzt hören wir, daß man auch noch die Gegenbewegung, die Empörung über dieſe Teuerung, niederzuhalten ſucht. Wir mir mitgeteilt wurde, hat der Oberbefehlshaber in den Marken, Herr von Keſſel, den Vertretern der Preſſe erklärt, er ſei un⸗ zufrieden mit ihrem Kampf gegen den Wucher, er wolle von Wucher nichts mehr hören. Ja, wir möchten auch nichts mehr davon hören, aber leider müſſen wir das, und ich muß ſagen: wenn dieſe Aeußerung richtig berichtet wird, dann hat ſich Herr von Keſſel, ſicherlich ohne es zu wollen, in den Dienſt der wuche⸗ riſchen Beſtrebungen geſtellt. Denn dieſe müſſen gekennzeichnet und mit der notwendigen Schärfe zurückgewieſen werden. Meine Herren, bedenken Sie wohl: nach dem Kriege wird eine gewaltige Abrechnung kommen. Unſere ganze Wirtſchaftspolitik, ja zu einem guten Teil unſer ganzes Wirtſchaftsſyſtem hat ſich in einer Weiſe als volksſchädlich erwieſen und moraliſch Bank⸗ rott gemacht, wie man das vor dem Kriege nicht für möglich gehalten hätte. Ich könnte Ihnen eine ganze Menge von Zitaten aus frommen Schriftſtellern an⸗ führen, die darauf hinweiſen, daß ſich die Lehren der Religion dem Eigennutz gegenüber als wirkungslos erwieſen haben. Und denken Sie an die Begeiſterung, die vor fünf Vierteljahren durch das deutſche Volk ging, denken Sie, wie dieſe Begeiſterung durch die ſchändliche Erfahrung niedergedrückt und vergiftet iſt, daß man die Not des Volkes in der ſchwerſten Zeit zu dieſen ſchamloſen Gewinnen ausgenutzt hat. Meine Herren, man darf ſagen: das deutſche Volk hat ſeine Schuldigkeit getan, übergenug getan. Aber diejenigen, die berufen waren, die Intereſſen des Volkes zu wahren, haben ihre Schuldigkeit nicht getan. Und andere, die für ſich in Anſpruch genommen hatten, die wirtſchaftlichen Führer zu ſein, die ſich die Befähigung und die Vollmacht zugeſprochen hatten, für das geſamte Volk die Lebensmittel⸗ und die ſon⸗ ſtige Verſorgung zu übernehmen, haben dieſes ſoziale Amt ſchmählich mißbraucht. 7 Deshalb möchte ich Sie bitten, unſerem Antrage zuzuſtimmen, damit der Magiſtrat ihn mit der ge⸗ botenen Entſchiedenheit vertritt und es endlich ein⸗ mal möglich ſein wird, dieſe Dinge an der Stelle, die vor allem dazu berufen iſt, auf der Reichstags⸗⸗ tribüne, zu kennzeichnen und für durchgreifende Mittel zur Abhilfe zu ſorgen. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Sitzung am 3. November 1915 Stadtv. Wöllmer: Meine Herren! Wenn man ja auch mit den ſachlichen Ausführungen des Herrn Kol⸗ legen Katzenſtein im großen und ganzen einver⸗ ſtanden ſein kann, ſo iſt es mir doch zweifelhaft, ob wir mit ſo einſeitigen Uebertreibungen, in denen ſich der Herr Kollege Katzenſtein bewegte, weiterkommen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Uebertreibungen? — Sehr richtig! bei den Liberalen.) Ich glaube, es ziemt ſich für die Stadtwerordneten, in ruhigen Erwägungen und mit ruhigen Worten ihre Anſicht zum Ausdruck zu bringen. Es kommt nichts dabei heraus, mit allzu ſtarken Worten und in ſolchen zum Teil geradezu beleidigenden Ausdrücken nach außen hin aufzutreten. (Widerſpruch bei den Sozialdemokraten.) Ich betone — und das weiß ja auch Herr Kollege Katzenſtein —, daß ich in ſachlicher Beziehung mit ihm einverſtanden bin. Ich teile ſeine Anſicht, daß unſere Politik in bezug auf die Lebensmittelver⸗ ſorgung ſeit Jahrzehnten falſche Bahnen gewandelt iſt. Aber nun in dieſem Augenblick, gerade jetzt, wo die Staatsregierung ernſthaft anfängt, ſich mit dieſen Dingen zu beſchäftigen und endlich Maßnahmen ge⸗ troffen werden — leider allzu ſpät — gerade jetzt mit derartigen ſchweren Vorwürfen in der Arena der Stadwerordnetenverſammlung nach außen hin auf⸗ zutreten, das, meine Herren, halte ich für verfehlt, (Sehr richtig! bei den Liberalen.) in der Wirkung verfehlt, wie es im Temperament ver⸗ fehlt war. Herr Kollege Katzenſtein hat außerdem auch unſerer Stadtverwaltung den Vorwurf gemacht, daß ſie bereits viel verſäumt habe. Das iſt ebenfalls meiner Ueberzeugung nach ein ſchwerer Vorwurf, der auch durch nichts gerechtfertigt iſt. (Sehr richtig! bei den Liberalen.) Ich will aber darauf nicht ausführlich eingehen; denn es iſt im Ausſchuß bereits ausgiebig Gelegen⸗ heit gegeben worden, alle dieſe Dinge zu beſprechen, und Herr Kollege Katzenſtein hat ja, wenn ich recht gehört habe, zu Anfang ſeiner Ausführungen ſelbſt geſagt: viel Neues freilich konnten wir im Ausſchuß nicht zutage fördern. Ich will ihm nicht allzu ſehr auf das Gebiet der politiſchen und kommunalpolitiſchen Betrachtungen folgen, die er in ſeinen Ausführungen angeſtellt hat, als er von Verſäumniſſen der Gemeinden ſprach. Meine Herren, Herr Katzenſtein mag mir die Be⸗ merkung nicht übel nehmen: da guckt der Pferdefuß des Sozialismus heraus. Ueber die Verſorgung der Zroßſtädtiſchen Bevölkerung durch die Sozialiſierung ſind die Anſichten ſehr verſchieden. Herr Kollege Katzenſtein iſt der Anſicht, daß es durchaus ſegensvoll wäre, wenn ſchon vor 50 Jahren alles ſozialiftert worden wäre. 7 (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Nun, andere Leute ſtehen auf einem andern Stand⸗ punkt; ſie ſind immer noch der Anſicht, daß die Ge⸗ ſwerbefreiheit trotz aller ihrer Beſchränkungen die