Sitzung am 19. Jannar 1916 Wir kommen nunmehr zu Punkt 7 der Tages⸗ ordnung: Antrag der Stadtv. Ahrens und Gen. betr. Klein⸗ 2 wohnungen. Druckſache 8. (Der Antrag lautet: Die Stadtverordnetenverſammlung erſucht den Magiſtrat, in Beratungen darüber einzutre⸗ ten, weiche Mittel anzuwenden ſind, um dem aller Vorausſicht nach bevorſtehenden Mangel an Kleinwohnungen rechtzeitig vorzubeugen, und mit möglichſter Beſchleunigung Vorſchläge in dieſer Richtung zu machen.) Antragſteller Stadtv. Katzenſtein: Meine Herren! Es könnte vielleicht die Meinung beſtehen, daß es jetzt nicht zweckmäßig ſei, den ſtädtiſchen Behörden, die mit der Bekämpfung der augenblicklichen Notſtände alle Hände voll zu tun haben, eine neue Aufgabe zuzumuten, die ſich mit der Verhütung einer erſt er⸗ warteten Not befaßt. Und doch iſt es tatſächlich eine Aufgabe, die dem Augenblicke ſchon entſpricht. Der Wohnungsnotſtand iſt ja nichts Neues. In den letzten Jahren vor dem Kriege ſchon hat ſich die Zahl der zur Verſügung ſtehenden Wohnungen kleineren Umfangs in ganz erſchreckendem Maße vermindert. Ich will Ihnen für unſere ſpeziellen Charlottenburger Verhält⸗ niſſe nur einige wenige Angaben machen, die das feſt⸗ ſtellen. Wir hatten in den Jahren bis 1910 eine allmählich zunehmende Zahl von kleinen Wohnun⸗ gen. Nehmen wir die Zahl von 1910, die den Höchſt⸗ punkt darſtellt, ſo waren es abzüglich der durch Ab⸗ reißung von Häuſern in Wegfall gerkommenen Woh⸗ nungen 3912. Von da ab vermindert ſich die Zahl auf 1748, 1333; im Jahre 1913 waren es noch 542 und 1914 nur noch 235 Wohnungen. Im erſten Viertel⸗ jahr 1915 ſind 114 Kleinwohnungen hinzugekom⸗ men, im zweiten Vierteljahr überhaupt keine mehr. Die Zahl der Nerbauten iſt in der letzten Zeit voll⸗ ſtändig zurückgegangen. Im zweiten Vierteljahr 1915 wurde keine Neubaubewilligung mehr ausge⸗ ſprochen. Wir dürfen annehmen, daß ſich dieſer Zu⸗ ſtand vor dem Ende des Krieges wohl nicht mehr än⸗ dern wird. . Wie ich ſchon ſagte, war ſchon vor dem Kriege infolge des Mangels an Wohnungen ein Notſtand vorhanden. So äußerte ſich die Armendirek⸗ tion in einem Bericht über die Zuſtände der Woh⸗ nungen der von ihr Verpflegten, daß der anhaltende Rückgang der Bautätigkeit an Kleinwohnungen das bezieht ſich auf das Jahr 19121 — geradezu zu einer Wohnungsnot im eigentlichen Sinne — das heißt des ganz ausgeſprochenen Mangels an Woh⸗ nungen — geführt hat, daß der zunehmende Preis eine Einſchränkung auf Koſten der Geſundheit und der Wohnungsbenutzer zur Folge gehabt hat. Die Entwicklung während des Krieges läßt erwarten, daß wir einer viel größeren Wohnungs⸗ knappheit in der Zeit nach dem Kriege entgegen⸗ gehen. Wir müſſen zunächſt erwarten, daß die Zahl der Benutzer kleiner Wohnungen zunehmen wird. Angenblicklich iſt ja die Inanſpruchnahme nicht ſo groß. Die Statiſtik der leerſtehenden Wohnungen für 1915 zeigt keine große Veränderung im Vergleich mitr den vorhergehenden Jahren. Aber wir wiſſen ja: das hängt damit zuſammen, daß viele Familien . 13 ihre Wohnſitze verlegt haben, daß Familien aufge⸗ löſt oder vereinigt worden ſind — lauter Umſtände, die nach dem Kriege wegfallen. Dann werden die zahlreichen Familien, die durch die Kriegstrauungen entſtanden ſind und die bisher noch keine Wohnung benutzt haben, als Wohnungsſucher auftreten; dann kommen die zahlreichen Perſonen hinzu, die durch den Krieg genötigt worden ſind, in ihren Verhält⸗ niſſen herabzuſteigen und kleinere Wohnungen zu nehmen. Aller Vorausſicht nach dürfen wir auch einen ſtarken Zuſtrom nach den Großſtädten erwar⸗ ten. Kurz, die Nachfrage nach kleinen Wohnungen wird ganz bedeutend ſteigen. Ihr gegenüber ſteht nicht eine bloß nachlaſſende, ſondern eine vollſtändig fehlende Herſtellung ſolcher Wohnungen. Nach dem Kriege wird ſich vorausſichtlich auch die eigene Tätig⸗ keit des Baugewerbes nur ganz langſam wieder in Fluß bringen laſſen. Wir werden infolge der Le⸗ bensmittelpreiſe, die ſich auch nicht gleich ſehr ſtark erniedrigen werden, mit teuren Herſtellungskoſten rechnen müſſen und vor allen Dingen mit einer ganz gewaltigen Geldknappheit, mit hohen Geldpreiſen. Das alles führt natürlich dahin, daß die Baugelder nicht vorhanden ſein werden, daß man ſehr wenig bauen wird. Auf dieſe Weiſe iſt ganz beſtimmt eine unmittelbare Not an kleinen Wohnungen zu erwarten. Dazu wird leider auch noch eine Steigerung der Wohnungsmieten treten. Die Herren erinnern ſich ja wohl noch der Zuſtände, wie ſie ſich nach 1871 her⸗ ausgebildet haben, wo die heimkehrenden Landwehr⸗ männer zum Teil mit Mierſteigerungen bis zu 60% rechnen mußten, wo man keine größere Kinderzahl mehr haben durfte — lauter Dinge, die ſich heute ſchon ankündigen. In den Kreiſen der Hausbeſitzer rechnet man ganz beſtimmt mit einer Steigerung der Wohnungsmieten. Es liegt ja auch auf der Hand. Die Hausbeſitzer haben ſich während des Krieges zum Teil erhebliche Einbußen gefallen laſſen müſſen; ſie werden beſtrebt ſein, dieſe nach dem Kriege wieder auszugleichen. Und die ihnen Gegenüberſtehenden werden infolge der ſtarken Nachfrage, infolge des feh⸗ lenden Angebots vollſtändig wehrlos ſein. Es iſt alſo eine dringende Notwendigkeit im Intereſſe der Geſundheit wie aus allen anderen moraliſchen, ſo⸗ zialen Rückſichten, daß hier Abhilfe geſchafft wird. Eine große Aufgabe wird ſelbſtverſtändlich der Geſetzgebung und den Staatsbehörden vorbehalten bleiben. Es handelt ſich ja hier um Dinge, die ich nicht des eingehenderen darzulegen brauche, weil ſie den Herren bekannt ſind, weil ſie Fragen betreffen, die gerade in den letzten Jahren vor dem Kriege ſehr eingehend in der Deffentlich⸗ keit erörtert worden ſind. Ich erinnere Sie an die großen Verſammlungen, die ſich mit der Wohnungs⸗ reform befaßt haben, an die Verhandlungen der par⸗ lamentariſchen Körperſchaften, die Beſchlüſſe, die ge⸗ faßt worden ſind, die Kommiſſtonen, die man ein⸗ geſetzt hat. Erſt in dieſen Tagen hat eine Kommiſſton zur Reform des Realkredits hier in Berlin getagt. Alſo die Fragen ſind nicht von heute und geſtern. Aber ſie werden ſo brennend ſein, ihre Löſung ſo dringend, daß es eine ganz beſonders wichtige Auf⸗ gabe ſowohl für die Behörden des Staates als auch 4 die Gemeindebehörden ſein wird, hier einzugrei⸗ en. Zunächſt wird ja die Gemeinde und ſpeziell der Verband Groß⸗Beulin genötigt ſein, auf die Staatsregierung in der Richtung der Er⸗ leichterung des gemeinnützigen und beſonders des ge⸗ 7