Sitzung am 10. Mai 1916 Aber wir müſſen uns in unſerer ganzen Lebenshal⸗ tung zweifellos jetzt und auch in Zukunft ſtarko Ent⸗ behrungen auferlegen, wir müſſen von alten, liebge⸗ wordenen Gewohnheiten energiſch abgehen, abgehen aber nur in einem Umfange, den jeder Hygieniker — ich möchte mich hier auf eine Autorität, auf un⸗ ſern Herrn Dezernenten IDr. Gottſtein berufen durchaus als verträglich mit der Volksgeſundheit be⸗ zeichnen wird. Ich habe es an meinen Kindern ge⸗ ſehen: es geht ganz gut ohne Fleiſch, und Herr Dr Gottſtein hat mir ſelbſt beſtätigt, daß gerade die Ernährung der Kinder in früheren Zeiten zweifellos an einem Zuviel an Fleiſch gelitten hat, ſo daß in der Beziehung eine etwas knappere Haltung nicht zu geſundheitlichen Schäden führen wird. Meine Herren, ich möchte Sie in dieſer Be⸗ ziehung bitten, nicht immer nach Schuldigen im Lande zu ſuchen, ſondern ſich einmal zu fragen, ob nicht die objektiven Vorgänge allein dazu hinreichen, um uns zu dieſer Sparſamkeit und zu dieſen Entbehrungen zu nötigen und zu erziehen. Nach der Richtung der Herbeiſchaffung der wichtigſten Lebensmittel ſind wir als Stadtverwar⸗ tung nahezu machtlos. Was die Verteilung betrifft, ſo nehmen wir Anregungen Ihrerſeits und aus der Bürgerſchaft ſtets außerordentlich gern ent⸗ gegen. Wir ſind keine Doktrinäre, wir werden jeden Antrag und jede Anregung eingehend prüfen. Denn wir ſind uns wohl bewußt, daß es augenblicklich für uns keine wichtigere Frage gibt als die der Volks⸗ ernährung, keine Frage, die ſo ausſchlaggebend iſt für die Zukunft unſeres Vaterlandes. (Lebhafter Beifall.) Vorſteher Dr. Frentzel: Zur geſchäftlichen Be⸗ handlung des vorliegenden Gegenſtandes möchte ich bemerken, daß Herr Kollege Stto bereits den An⸗ trag auf Beſprechung der von ihm und ſeinen Freun⸗ den geſtellten Anfrage eingebracht hat. Ich kann wohl annehmen, daß Herr Kollege Dr Stadthagen einen ebenſolchen Antrag ſtellt. Dann darf ich fragen, ob die beiden Anträge auf Beſprechung der Anfragen die nötige Unterſtützung finden. Die nötige Unterſtützung iſt gegeben. Damit iſt die Be⸗ ſprechung der beiden Anfragen beſchloſſen. Für den Antrag bedarf es einer ſolchen Abſtimmung bekannt⸗ lich nicht. Ich erteile zunächſt Herrn Kollegen Meyer das Wort und bemerke dazu, daß ich wie bei der jetzigen Diskuſſion auch den folgenden Herren Rednern voll⸗ kommene Freiheit laſſe, ſich über die verſchiedenen Punkte, die in den Anfragen und in dem Antrag angegeben ſind, auszuſprechen. Stadtv. Meyer: Meine Herren! Die Liberale Fraktion, die Neue Fraktion und die Vereinigte alte Fraktion haben ſich zu einem Antrage zuſammen⸗ gefunden, der, wie ich zu meiner Genugtuung vor⸗ ausſchicken kann, in den weſentlichſten Punkten mit dem Antrage der ſozialdemokratiſchen Fraktion über⸗ einſtimmt, aber ihn doch in einer Beziehung ergängt, in anderen eine etwas abweichende Auffaſſung zum Ausdrucke bringt, ſo daß wir uns immerhin ver⸗ anlaßt ſehen, dieſen Antrag neben jenem einzubrin⸗ gen. Ich möchte vorweg den Antrag vorleſen; er lautet: Der Magiſtrat wird erſucht, bei dem Reichskanzler dringende Vorſtellungen zu er⸗ heben, daß vermöge einer gerechten Verteilung 105 der vorhandenen Lebensmittel auf die einzel⸗ nen deutſchen Bundesſtaaten und auf Stadt und Land eine ausreichende Verſorgung der Bevölkerung Groß⸗Berlins im allgemeinen und Charlottenburgs im beſonderen mit Nahrungs⸗ mitteln geſichert werde. Der Magiſtrat wird ferner erſucht, unab⸗ hängig von den Maßnahmen des Reiches ſeinerſeits 0 1. unverzüglich Fleiſchkarten einzuführen, 2. ſolange und ſoweit ſtädtiſche Verkaufsſtel⸗ len nicht eingerichtet ſind, außer den Mit⸗ gliedern der Lebensmitteldeputation auch ſonſtige geeignete Perſonen, insbeſondere auch Frauen, im Einvernehmen mit der Polizeibehörde Ausweiskarten auszuſtel⸗ len, die zum Betreten der Nahrungsmittel⸗ geſchäfte und zur Kontrolle der Art des Verkaufs berechtigen. Geſtatten Sie mir, meine Herren, dieſen An⸗ trag mit einigen Worten zu begründen. Es iſt noch nicht lange her, daß wir uns über dieſelbe Frage wie heute unterhalten haben. Es ge⸗ ſchah damals in geheimer Sitzung in der Abſicht, hierdurch zu ermöglichen, daß alles, auch dasjenige, was für die öffentliche Behandlung etwa nicht unbe⸗ dingt geeignet iſt, zur Ausſprache gelangen und eine von jeder Rückſichtnahme freie Beſchlußfaſſung ſtatt⸗ finden könnte. Das Ergebnis dieſer Beratung am 29. März 1916 war ein einſtimmiger Beſchluß, deſſen erſter Satz lautete: Die Stadtverordnetenverſammlung hat die Ueberzeugung gewonnen, daß ſeitens des Magiſtrats alles geſchehen iſt, um die Char⸗ lottenburger Bevölkerung mit den unentbehr⸗ lichſten Nahrungsmitteln zu verſorgen, ſoweit es im Machtbereiche der ſtädtiſchen Verwal⸗ tung ſteht. Ich erkläre ausdrücklich, daß wir, die wir den eben verleſenen Antrag eingebracht haben, heute noch auf dem Boden des damaligen Beſchluſſes ſtehen, und ich habe auch nicht aus den Ausführungen des Herrn Kollegen Hirſch gehört, daß ſeine Freunde etwa dieſen Standpunkt verlaſſen hätten. Meine Herren, worin die eigentliche Urſache der Verhältniſſe, in denen wir uns jetzt befinden, liegt, das iſt bereits in einer Sitzung der Stadtverord⸗ netenverſammlung vor längerer Zeit zum Ausdrucke gekommen. Es war am 20. Oktober 1915, als wir über die ſich bereits erheblich fühlbar machende Lebensmittelteuerung ſprachen und Herr Bürger⸗ meiſter Dr Maier Darlegungen machte, die zum Teil heute noch ſo zeitgemäß ſind, daß ich einiges davon hier anführen will. Je länger, je mehr 1020 der Herr Bürgermeiſter voriges Jahr ge⸗ agt— erkennen wir aus der Praxis, daß alle Maß⸗ nahmen, die getroffen werden, Stückmaßnah⸗ men bleiben, ſolange die einzelnen Kommunen allein ſich an dieſen Dingen verſuchen. Mehr denn je tritt die Einheit des Wirtſchaftsgebiets des Deutſchen Reiches jetzt während des Krie⸗ ges in klarer Weiſe vor unſere Augen. Wir erkennen auf der einen Seite die Produktions⸗ fähigkeit dieſes Wirtſchaftsgebiets und auf der andern die Notwendigkeit zur Einfuhr in die⸗ ſes Gebiet. Es liegt auf der Hand, daß, ſo⸗