Sitzung am 10. Mai 1916 eine große Menge von Material über dieſe Frage zugeſchickt erhalten. Ich bin nur in der Lage, aus dieſem Material ein ganz kleines Teilchen heraus⸗ zunehmen. Aber dieſes tleine Teil iſt doch ſchon recht denkwürdig. Mir wird z. B. von einer Abtei⸗ lung eines hieſigen Fürſorgevereins folgendes be⸗ richtet: „Eine alte Muſiklehrerin, die ſeit Jahren unſer Schützling iſt, bat vor einiger Zeit um Ausſtellung einer Beſcheinigung für den Be⸗ zug von ¼ Pfund Fleiſch, da ſie ſeit Wochen keins erhalten konnte und ſich ſehr ſchwach fühlte. Sie hat dies dann endlich unter den größten Schwierigteiten erhalten, nachdem ſie bei mehreren Verteilungen unberückſichtigt hlieb. Der Einkauf war dann ſo zuſtande ge⸗ fommen, daß ein ſehr alter Mann aus dem Hauſe morgens mit einem Klappſtuhl vor dem Fleiſcherladen in der wartenden Menge Platz nahm, nach einigen Stunden von ſeiner Frau abgelöſt wurde, bis endlich das alte Fräulein ſelbſt, die inzwiſchen einige Unterrichtsſtunden gegeben hatte, auch dieſe ablöſte. In einem anderen Falle hat eine uns ſehr gut bekannte ordentliche Kriegerfrau die ganze Nacht durch vor dem Fleiſcherladen gewartet, um endlich, nachdem ſie ſeit Ladenſchluß ge⸗ ſtanden, gegen 8 Uhr morgens ein halbes Pfund Fett zu erhalten. Um 3 Uhr morgens ſtatt um 5 Uhr, wie vereinbart, löſte ſie der ſchulpflichtige älteſte Sohn ab, damit die Mut⸗ ter ein paar Stunden ſchlafen konnte. Häufig wurden während der letzten Wochen Schulverſäumniſſe und Unpünktlichkeiten von Kindern gemeldet. Die Entſchuldigungen lau⸗ teten ſtets: die Kinder mußten um Butter, Fleiſch oder dergleichen ſtehen. Weiter wird mir von einer anderen Stelle ge⸗ ſchrieben: Das Mädchenheim der Vereinigung der Wohltätigkeitsbeſtrebungen (Unterkunft für 7 arbeitsloſe jugendliche Mädchen) bekommt ſeit Ende Februar kein Fett, kein Fleiſch und keine Margarine mehr. Es iſt vorgekommen, daß die Mädchen ſtundenlang an den ſtädti⸗ ſchen Verkaufsſtellen warteten und ſchließlich fortgehen mußten, ohne etwas zu erhalten. Viele Kinder, mit denen die Jugendfürſorge ſich zu beſchäftigen hat, haben täglich ſtunden⸗ lang auf der Straße vor Lebensmittelgeſchäften zu warten. Die Eltern erklären auch, daß ſie um ſolcher Gründe willen die Kinder nicht zur Schule oder in das Jugendheim ſchicken können. Meine Herren, das ſind doch ſchließlich Zuſtände, die geradezu nicht mehr erlaubt ſind. Es iſt alſo jetzt tatſächlich ſo weit gekommen, daß eine große Reihe von Charlottenburger Kindern vor Schulbe⸗ ginn ſtundenlang vor den Fleiſcherläden, und zwar an den ſtädtiſchen Verkaufsſtellen, ſtehen, und daß ſie dann, wenn ſie zur Schule müſſen, von den El⸗ tern, von dem Vater oder der Mutter, abgelöſt wer⸗ den. Ja, meine Herren, ich möchte doch einmal dar⸗ auf aufmerkſam machen, wie wir uns alle für den Kinderſchutz in der Induſtrie und Landwirtſchaft ins Zeug gelegt haben, (Sehr aut!) 111 und zwar damals mit der Motivierung: das Kind ſoll friſch zur Schule kommen, das Kind ſoll als Kind leben, das Kind ſoll von ſeinem Leben etwas haben. Und die Pädagogen haben ertlärt, daß Kin⸗ der, die morgens irgendeine Tätigkeit ausüben, nicht in der Lage ſind, dem Schulunterricht zu fol⸗ gen. Und nun kommen wir hier in einer ohnehin ſchon ſchweren Zeit dazu, daß die Kinder von 3 Uhr morgens bis um 7 Uhr um Fleiſch oder Butter ſtehen müſſen. Das ſind doch Zuſtände, die ver⸗ mieden werden müſſen und die zu vermeiden ſind. Hier handelt es ſich tatſächlich bloß um Organiſa⸗ tionsfragen. Als wir früher hier mal über die Butterkarten ſprachen, iſt von vielen Seiten behauptet worden, ihre Einführung wäre nicht möglich. In einzelnen Städten hat man ſie eingeführt. Da iſt ſehr viel geändert worden. Als Beweis, wie einfach eine Aenderung wäre, ſei folgendes angeführt: Nachdem heute vor einem hieſigen Butterladen die Leute vier Stunden geſtanden hatten, erſchien ein Polizeileut⸗ nant und ſchickte ein Drittel der Leute weg, weil er in⸗ zwiſchen feſtgeſtellt hatte, daß für dieſe Leute keine Butter mehr vorhanden war. Da ſtanden die mei⸗ ſten der fortgeſchickten Leute aber ſchon 1 ½ Stunden lang. War ſolch verſtändiges Eingreifen nicht früher möglich? Ich bin der Anſicht: wenn die ſtädtiſchen Fleiſch⸗ verkaufsläden nicht in der Lage ſind, in einer be⸗ ſtimmten kurzen Zeit die Käufer abzufertigen, ſo müſſen eben mehr ſtädtiſche Verkaufsſtellen einge⸗ richtet werden. (Sehr richtig!) Es geht jedenfalls nicht an, daß dieſer Zuſtand wei⸗ ter dauert, und ich darf wohl die feſte Ueberzeugung haben, daß unſer Magiſtrat, der ja gezeigt hat, daß er für die großen Geſichtspunkte der ſtädtiſchen Le⸗ bensmittelverſorgung durchaus zugänalich iſt, ſich auch dieſen kleinen Dingen nun etwas ſchneller und etwas mehr zuwenden wird. Ich bin der feſten Ueberzeu⸗ gung, daß weſentliche Aenderungen hier nur Sache des guten Willens ſind. Weiter nichts. Nachdem nun leider die Polizeibehörden nach der Richtung hin nichts Genügendes getan haben und, wie es ſcheint, das Oberkommando in den Marten, an das ich mich ſchon perſönlich in der Sache gewendet habe, nichts Eingreifendes tun will, ſollten wir wenigſtens für unſer engeres Stadtgebiet mit Hilfe des Magi⸗ ſtrats geordnete Zuſtände zu ſchaffen verſuchen. (Bravo!) Vorſteher Dr. Frentzel: Es iſt ein Antrag auf Schluß der Debatte geſtellt worden. Auf der Rednerliſte ſtehen noch die Herren Erdmannsdörffer, Dr Landsberger, Gebert, Katzenſtein, Zielenziger und Dr. Eyck. Ich bitte diejenigen Herren, die für den ( 4 der Debatte eintreten wollen, die Hand zu erheben. (Geſchieht.) Das iſt die große Mehrheit; der Schluß der De⸗ batte iſt eingetreten. Es hat nunmehr nach unſerer Gepflogenheit noch je ein Vertreter der Anfrageſteller und der Antrag⸗ ſteller das Schlußwort.