74 1 196 Antragſteller Stadtv. Dr Borchardt: Meine Herren! Die Verordnung wegen des Schnee⸗ ſchippens hat in der Bevölkerung eine außerordent⸗ liche Beunruhigung ausgelöſt, und das iſt auch er⸗ flärlich, wenn man ſich den Inhalt dieſer Verordnung ve gegenwärtigr. Nach dieſer Verordnung ſoll dem Hauswirt reſp. dem Vertreter des Hauswirts eine Diskretionäre Vollmacht darüber gegeben werden, daß die Mieter im Alter von 14 bis 60 Jahren zur Be⸗ ſeitigung des Schnees auf dem Fahrdamm heran⸗ gezogen werden, und zwar, falls ein Schneeſall bei Tage eintritt, ſofort, falls der Schneefall bei Nacht eintritt, ſpäteſtens frühmorgens um 127 Uhr. Es wi d alſo dem Hauswirr reſp. dem Vertreter des Hauswirts, d. h. in der überwiegenden Anzahl von Fällen dem Portier, eine vollkommen diskretionäre Vollmacht über die Arbeitszeit und über die Arbeits⸗ faft der Mieter gegeben. Wie die Herren, die eine ſolche Verordnung ausgeheckt haben, ſich ihre Durch⸗ führung denken, iſt mir vollſtändig unklar. Daß der Hauswirt oder der Portier irgendwie imſtande iſt, über die Arbeitszeit der Mieter des Hauſes, orientiert zu ſein, das Kommandieren zum Schnee⸗ ſchippen der Arbeitszeit und den Arbeitskräften der Bewohner des Hauſes anzupaſſen, iſt ja abſolut aus⸗ geſchloſſen. Man vergegenwärtige ſich doch nur, wie die Sache gemacht werden kann oder gemacht werden joll. Es iſt ja ganz klar, daß ärztliche Atteſte über kö perliche Unfähigkeit zu dieſer Arbeit von ihr be⸗ freien werden. Es iſt auch ohne weiteres klar, daß die begürerten Kreiſe ſehr leicht ſolche ärztlichen Atteſte beibringen können und beibringen werden. Es iſt aus anderen Gründen auch durchaus klar, daß begüterte Leute von den Portiers nicht zu dieſer Arbeitsleiſtung werden kommandiert werden können. 7 (Zuruf: Na, na!) Nicht dagegen werden die Nichtbegüterten in der Lage ſein, ſich ohne weiteres ärztliche Atteſte zu verſchaffen, auch wenn ſie körperlich urchaus nicht fähig ſind, der⸗ artige ſchwere Arebit zu leiſten, weil ja eben ärztliche Atteſte auch wieder mit größeren Koſten verbunden ſind. Außerdem wird doch, wenn die Verordnung irgendwelchen Erfolg haben ſoll, darauf gerechnet, daß gerade die nichtbegüterte, die ſchwer arbeitende Maſſe der Bevölkerung zu dieſer Arbeit mit heran⸗ gezogen wird. Wie aber der arleitenden Bevölkerung zugemutet werden kann, wenn ſie den Tag über be⸗ reits ſchwer gearbeitet hat, ſich auf Kommando des Portiers oder des Hauswirts noch einmal für eine ſchwere körperliche Arbeit zur Vefügung zu ſtellen, das iſt mir auch unerfindlich. Zwar die Zumutung ſehen wir, aber von der Durchführung kann ich mir eine rechte Vorſtellung nicht machen. Die Leute, die tagsüler, wenn der Schnee fällt, in den Fabriken be⸗ ſchäftigt ſind, ſind eben nicht da, wenn der Herr Hauswirt oder ſein Verwalter, der Portier, komman⸗ diert, daß ſie zur Arbeit antreten ſollen, und auch andere Leute, die nicht gerade in den Fabriken ar⸗ beiten, die aber doch auch ihrem Berufe nachgehen, ſind nicht da, wenn am Tage der Schnee fällt und der Portier ſie zur Arbeit aufruft. Iſt der Schnee in der Nacht gefallen, ſo ſind die Leute um 27 Uhr etenfalls nicht zur Stelle und können nicht zur Stelle ſein. Alle diejenigen, deren Tagesarbeit ſie dazu zwingt, auch noch ſpät am Abend zu arbeiten, ſind gleichfalls nicht in der Lage, frühmorgens um %7 Uhr 1 Sitzung am 14. November 1917 bereit zu ſein. Die Menge der Arbeiter wiederum, die in die Fabrik gehen, ſind um 27 Uhr morgens auch nicht in der Lage, Schnee zu ſchippen, denn um dieſe Zeit müſſen ſie meiſt ſchon in der Fabrik an⸗ treten oder wenigſtens bei den Berliner Entfernun⸗ gen unterwegs ſein. Eine Durchführung der Verordnung in dem Sinne, daß nun wirklich die Maſſe der Bevölkerung zur Schneebeſeitigung herangezogen wird, ſcheint mir völlig unmöglich, ganz abgeſehen von allen ſonſtigen Härten, die in dieſer Verordnung liegen. Man will es der ſchwer arbeitenden Bevölkerung zumuten, zum Schneeſchippen anzutreten, ohne auch nur im min⸗ deſten dafür zu ſorgen, daß ſie genügend mit Kleidung und Schuhwerk verſehen iſt, was doch gerade bei dieſer Arbeit außerordentlich notwendig iſt. Daß ge⸗ rade gutes Schuhwerk heute noch im Beſitz der großen Maſſe der Bevölkerung iſt, das wird wohl niemand glauren, und wer heute noch einigermaßen mit Schuh⸗ werk verſehen iſt, deſſen Schuhwerk dürfte, wenn dieſe Arbeit an ihn herantritt, auch bereits abgenutzt ſein, ohne daß er imſtande iſt, für vollwertigen Erſatz zu ſorgen. Alſo die Durchführung einer ſolchen Verord⸗ nung ſcheint mir vollkommen unmöglich. Die Ver⸗ ordnung ſelbſt wird zu denen gehören, die eben auf dem Papier ſtehen. Wir ſind ja mit einer ganzen Reihe von Verordnungen vom grünen Tiſch in der Kriegszeit bedacht worden, deren Ausführung eben nicht erfolgt, weil ſie nicht erfolgen kann. Aber ich glaube, noch kaum jemals iſt eine Verordnung ſo „wenig durchführbar geweſen, wie die hier vorliegende. Es kann daher dem Anſehen der Verwaltungen, die ſolche Verordnungen erlaſſen, nicht förderlich ſein, wenn ſie aufrechterhalten werdem. Dagegen wird der Verſuch der Durchführung in den weiteſten Kreiſen zu außerordentlicher Erbitte⸗ rung führen. Ich will gar nicht von der Möglichkeit der Schikanierungen reden. Die Hauswirte find ſicher keine Engel, die Vertreter der Hauswirte, die Por⸗ tiers, ebenfalls nicht, und es iſt leicht möglich, daß der Verſuch der Durchführung einer ſolchen Verordnung zu außerordentlichen Schikanen ſeitens einzelner führt. Ich will bloß auf die Häuſer hinweiſen, deren Be⸗ ſitzer weillichen Geſchlechts ſind. Ich habe alle Hoch⸗ achtung vor dem weiblichen Geſchlecht; aber gerade in bezug auf Kleinlichkeit iſt uns die weibliche Hälfte des Menſchengeſchlechts nach meinen Erfahrungen doch etwas über, und es iſt leicht möglich, daß gerade da, wo die Vertretung des Hauswirts eine Portierfrau hat oder wo der Hauswart ſelbſt weiblichen Geſchlechts iſt, in höherem Maße Schikanierungen Platz greifen als in den anderen normalen Fällen. Wie geſagt, ich will auf dieſe Schikanierungen, die ja nur neben⸗ bei mit unterlaufen können und werden, auch nur nebenbei auf ein untergeordnetes Moment hinge⸗ wieſen haben. Das Hauptmoment iſt, daß der kloße Verſuch, dieſe Verordnung loyal durchzuführen, not⸗ wendigerweiſe zu den unerhörteſten Mißgriffen führen vuß und daher auch zu einer Erbitterung und Ver⸗ bitterung. Es feylt in dieſer Verordnung jede Anweiſung, wie diejenigen, die die Verordnung erlaſſen haben, ſich ihre Ausführung denken. Man will, wie es ſcheint, alles der Praxis überlaſſen. Nun, da wird ſchon etwas Schönes herauskommen! In den Abendelättern habe ich ſoeben geleſen, daß morgen in der Berliner Stadt⸗ verordnetenverſammlung ein Antrag verhandelt wird, der von der dortigen größten Fraktion eingebracht iſt, worin der Magiſtrat erſucht wird, beim Oberkom⸗