72 Sitzung am 12. März 1919 Sozialdemokraten ſelbſt einmal überlegen. Dann werden Zuſtände eintreten, wo Sie, meine Herren Sozialdemokraten alle, wie Sie hier ſind, als viel zu reaktionär und konſervativ den Leuten gegenüber angeſehen werden, die dann die Oberhand, wahr⸗ ſcheinlich in Form der Diktatur, über uns gewinnen werden. Vorſteher Dr Borchardt: Es iſt ein Antrag auf Schluß der Debatte eingegangen. Ich ſtelle die Frage, ob der Antrag genügende Unterſtützung findet. — Der Antrag iſt genügend unterſtützt. Ich bitte diejenigen, die für den Schluß der Debatte ſind, die Hand zu erheben. (Geſchieht.) — Das iſt die Mehrheit. Die Debatte iſt geſchloſſen. Die Antragſteller verzichten auf das Schluß⸗ wort. Wir kommen nunmehr zur Abſtimmung. (Der Antrag Dr Broh und Gen. wird von der Ver⸗ ſammlung abgelehnt.) Bevor wir weitergehen, bemerke ich, daß das Protokoll der Sitzung heute vollziehen die Stadtver⸗ ordneten Dr. Brix, Frau Deutſch und Troebs. Wir kommen zu Punkt 10 der Tagesordnung: Anfrage der Stadtv. Dr Roſenfeld und Gen. betr. Wohnungsnot. Die Anfrage lautet: Welche Maßregeln ſind vom Magiſtrat be⸗ abſichtigt oder getroffen, um bei dem am 1. April zu erwartenden Notſtand für diejeni⸗ gen Familien, die ihre Wohnung verlaſſen müſſen und ohne andere Wohnung oder Unter⸗ kunft bleiben, Abhilfe zu ſchaffen? Frageſteller Stadtv. Dr Roſenfeld: Geehrte Anweſende! Ich bedaure, daß ich nach einer aus⸗ giebigen vierſtündigen Debatte noch gezwungen bin, Ihre Aufmerkſamkeit in dieſer vorgerückten Stunde in Anſpruch zu nehmen. Aber wir können nicht umhin, auf dieſe Dinge einzugehen, weil ſie von außerordentlicher Bedeutung ſind. Die Tatſache der Wohnungsnot hier in Char⸗ lottenburg kann ja keinem Zweifel unterliegen. Wer noch vor einigen Monaten darüber im Zweifel ſein konnte, wird durch einen Blick in die Zeitungen darüber eines Beſſeren belehrt. Was bisher noch niemals der Fall war, ſehen wir jetzt: es werden Belohnungen ausgeſchrieben für die Vermittlung von einer kleinen oder mittleren Wohnung. Das iſt ein Zuſtand, der darauf hinweiſt, wie die Dinge ſich zugeſpitzt haben. Ich muß mit ein paar Worten auf die allge⸗ meine Seite eingehen. Die Wohnungsfrage iſt für Charlottenburg nicht neu. Ich erinnere mich, daß bereits vor zehn Jahren hier in der Stadtwerord⸗ netenverſammlung davon die Rede war, daß wegen Mangels an Kleinwohnungen Feuerwehrwachen für obdachloſe Familien haben in Anſpruch genommen werden müſſen. Es iſt eine alte Sünde der Vergan⸗ genheit, die hier von neuem in verſtärkter Form auf⸗ getreten iſt und 2 an unſere Tür pocht. Die Wohnungsfrage hat zu Anfang des Krieges dadurch eine gewiſſe Erleichterung erfahren, daß die wehr⸗ fähige Bevölkerung größtenteils Charlottenburg verließ. Dadurch war im Augenblick eine Erleichte⸗ rung geſchaffen. Aber die Verhältniſſe, insbeſondere der Mangel an Rohſtoffen, die Unmöglichkeit, neue Wohnungen zu errichten, haben dazu geführt, daß die Wohnungsnot in ungewöhnlich verſtärkter Form auftrat, als der Krieg zu Ende war. So iſt heute die Frage ſo brennend, daß wir uns ihr nicht ent⸗ ziehen können. Wir müſſen mit der Tatſache rech⸗ nen, daß etwa 100, vielleicht noch mehr Familien am 1. April nicht wiſſen werden, wo ſie hin ſollen. Bei der Nähe des Umzugstermins wird daher der Magiſtrat vor die außerordentlich dringende Frage geſtellt, wie er dieſem Notſtand abhelfen will. Es iſt auch nicht damit zu rechnen, daß das nur ein Uebelſtand ganz vorübergehender Natur ſei. (Zuruf: Doch!) Denn wenn ſelbſt, was ich hoffe, zu erwarten iſt, daß größere Teile der Bevölkerung auf das Land ziehen oder in die kleinen Städte abwandern wer⸗ den, ſo iſt doch die Wohnungsfrage nicht nur auf. die einzelnen Großſtädte beſchränkt. Nicht nur in den Großſtädten eriſtiert eine Wohnungsnot, ſon⸗ dern auch in vielen kleinen Städten, auch auf dem flachen Lande iſt ſie vorhanden. Daß alſo etwa von heute auf morgen oder übermorgen dieſe Ver⸗ hältniſſe eine Verſchiebung zugunſten der großen Städte erfahren werden, davon kann nicht die Rede ſein. Aber ſelbſt, wenn das der Fall wäre, würde es den Magiſtrat nicht davon entbinden, ſich im Augenblick nach allen Möglichkeiten umzuſehen, die in dieſer Beziehung beſtehen. Der Mieterverein hat ſich bereits in dieſer An⸗ gelegenheit an die Gemeinde gewandt und hat Vor⸗ ſtellungen gemacht, in welcher Weiſe hier der Ma⸗ giſtrat Abhilfe zu ſchaffen denke. Wir haben durch die neue Verordnung manche Mittel in die Hand bekommen, und in dieſer Beziehung möchte ich gern von dem Magiſtrat hören, ob er dazu Stellung genommen hat. Es handelt ſich z. B. um die Beſtimmung, die zur Behebung der dringendſten Wohnungsnot in der Verfügung vom Januar 1919 getroffen iſt. Darin iſt eine Maßregel an die Hand gegeben, wo⸗ nach eine Zwangspachtung zur Errichtung von Behelfsbauten, von Baracken und Notbauten ſtatt⸗ finden kann. Das wäre eine Maßnahme. von der ich mir gerade für Charlottenburg etwas verſprechen könnte. Denn wir haben geeigneten Grund und Boden, bei dem daran gedacht werden könnte, auf dieſe Weiſe Abhilfe zu ſchaffen. Ferner iſt eine Handhabe durch eine Verord⸗ nung gegeben, die dem Magiſtrat erlaubt, eine Ueberſicht darüber zu gewinnen, wo die 04 2 nicht genügend ausgenutzt ſind. In dieſer Ve ziehung iſt bereits in einer Reihe anderer Gemein: den mit gutem Beiſpiel vorangegangen worden. Man hat dort eine Statiſtik ge en, um 241— 2 ſtellen, ob nicht eine große Anzahl von Wohnunge in einem ſo geringen Maße ſind in einem auffälligen Mißverhältnis 3 völkerung ſteht, unter der die meiſt leiden. Wenn wir Zuſtände gabe S in eine Woh