Beginn der Sitzung 6 Uhr 30 Minuten. Vorſteher Borchardt: Sitzung. Als Vertreter des Magiſtrats ſind abgeordnet Stadtſchulrat I)r Neufert, Kämmerer Scholtz, Stadt⸗ baurat Seeling, Stadträte Ring, Dr Spiegel, Auguſtin, Dr Fiſcher und Dr Sußmann. Als Beiſitzer walten die Stadtv. Panſchow und Frau Nemitz. Stadtv. Panſchow führt die Redner⸗ Dr Ich eröffne die liſte. Entſchuldigt ſind die Stadtw. Dr Brix, Dr Broh, Hirſch, Künzel, I)0r Liepmann, Schmidt, Frau Zucker. Die Vorſchläge des Wahlausſchuſſes zu Tages⸗ ordnung Nr. 17 und 18 liegen mit den Akten aus und gelten als genehmigt, wenn bis zum Schluß der öffentlichen Sitzung Widerſpruch nicht erhoben wird. Meine Damen und Herren! Jetzt, bei der erſten Gelegenheit, bei der wir, die gewählten Vertreter der Bürgerſchaft Charlottenburgs, uns nach Ueber⸗ reichung der uns aufzuerlegenden Bedingungen in Verſailles verſammeln, dürfen wir unmöglich an dem vorübergehen, was die Herzen aller Deutſchen be⸗ wegt, und ich darf wohl annehmen, daß ich als Ver⸗ treter der geſamten Bürgerſchaft, von der äußerſten Rechten bis zur äußerſten Linken, ſpreche, wenn ich unſerem Gefühl tiefſter Empörung und Entrüſtung Ausdruck gebe über die Bedingungen, die der Ver⸗ nichtungswille der Feinde uns auferlegen will, und zwar unter ſchnödeſtem, ſchamloſem Wortbruch. Ver⸗ ſprochen war uns ein Friede des Rechts und der Ver⸗ ſöhnung. Zugemutet werden uns Bedingungen, die unſer Vaterland zerreißen und zerſtückeln, unſer Volk entrechten, unſere Arbeiterklaſſe zu Heloten der Sie⸗ ger machen ſollen. Der brutalſte Siegerwille eines ſich ſelbſt über⸗ ſchlagenden Imperialismus feiert in dem Dokument, das man die Stirn hat, ein Friedensdokument zu nennen, geradezu Orgien. Wir können nicht glau⸗ ben, daß aus dieſem Dokument die wahre Stimmung der Völker ſpricht. Denn das Volk iſt zu allen Zeiten und überall friedliebend. Aus dieſem Dokument ſpricht vielmehr der unverhüllteſte Kapitalismus und Imperialismus derjenigen Klaſſen, die in den Ententeländern, unterſtützt durch den Siegesrauſch und Siegestaumel, von dem dort auch die Maſſen noch ergriffen ſind, ihre Herrſchaft befeſtigen und Durch Verſklavung des deutſchen Volkes verewigen wollen. Das iſt natürlich Täuſchung; denn eine ſolche Verſklavung kann kein Volk ertragen. Nicht eine Aera des Friedens, ſondern eine Aera fort⸗ dauernder Empörung, die ſich ſchließlich in blutigen, fürchterlichen Kämpfen und Kriegen entladen muß, mürde ein ſolcher Friedensvertrag einleiten. Statt deſſen einen wirklichen Frieden zu ſchaffen und mit einem wirklichen Frieden ein Zeitalter ruhiger, ſegensreicher Arbeit herbeizuführen, muß das Ziel] und Streben aller wahren Menſchheitsfreunde ſein.] Deshalb wenden wir uns an das Gewiſſen aller derer in allen Ländern, die irgendwie noch beſonnen und ruhig denken können, und wir können und wol⸗ len die Hoffnung nicht aufgeben, daß, unterſtützt von dem Einfluß aller ruhigen und beſonnenen Elemente, auch in den ſiegreichen Ländern dieſer Blutrauſch, dieſer Siegesrauſch verfliegen wird und verfliegen muß, und daß es dem Einfluß dieſer Elemente ge⸗ lingen wird, aelingen muß, das Friedensdokument Sitzung am 14. Mai 1919 unter der tatkräftigen Mithilfe unſerer Abgeſandten in Verſailles ſo zu geſtalten, daß auch ihnen die Unterzeichnung ermöglicht, daß damit ein wirklicher dauernder und wahrer Friede herbeigeführt wird. (Lebhafter Beifall.) Oberbürgermeiſter Dr Scholz: In dem Gefühl tiefſter Empörung und Entrüſtung über den uns an⸗ geſonnenen Gewaltfrieden weiß ſich auch der Ma⸗ giſtrat mit der geſamten Bevölkerung einig. Wie überall in deutſchen Landen von Millionen und aber Millionen gegen dieſes Dokument von Ver⸗ ſailles Proteſt erhoben wird, ſo wollen auch wir heute öffentlich und feierlich gegen dieſen Vertrauens⸗ bruch, gegen dieſen unerhörten Rechtsbruch proteſtie⸗ ren, der gegen ein Volk begangen iſt, das vertrauens⸗ ſelig und vertrauend auf ſchriftliche und mündliche Aeußerungen dazu Berufener ſeine Waffen nieder⸗ gelegt und ſich wehrlos einem, wie es hoffte, rechtlich denkenden Feinde ausgeliefert hat. Wir wollen Pro⸗ teſt erheben gegen dieſen Scheinfrieden, der von uns verlangt wird und der in Wahrheit nichts anderes ſein kann als ein Erzeuger immer erneuter Unruhen. Wir wollen Proteſt erheben gegen dieſe Knechtung eines freien Volkes, das in emſiger Arbeit der Welt höchſte Kulturgüter geſchenkt hat. Aber mehr noch als andere müſſen wir Be⸗ wohner deutſcher Großſtädte uns gegen einen jolchen Frieden wenden. Wir müſſen uns wenden gegen den Raub urdeutſchen Gebietes im Oſten und Weſten insbeſondere deshalb, weil die Abtrennung gerade dieſer Gebiete unſere ſtädtiſche Induſtrie ihrer Rohſtoffe und unſere Bevölkerung ihrer Ernährungsmöglichkeiten beraubt. Wir müſſen uns wenden gegen dieſes Dokument des Haſſes und der Rache, das uns auf den Standpunkt eines Agrar⸗ ſtaates längſt verſunkener Epochen herunterdrücken ſoll, und das die blühenden Städte, in denen auch wir wohnen, in öde Steinwüſten umwandeln wird. Wir appellieren von dieſem haßgetrübten Spruch ſiegestrunkener Feinde an das unparteiiſche Weltgewiſſen. Wir haben die Hoffnung, daß es ge⸗ lingen möge, einen erträglichen Frieden für uns durch Verhandlungen herbeizuführen. Aber unſere Feinde und die Welt ſollen wiſſen, daß es eine Grenze der Belaſtung, daß es eine Grenze der phyſiſchen und pſychiſchen Leiſtungsfähig⸗ keit des deutſchen Volkes gibt, die nicht ungeſtraft überſchritten werden kann. Das Wort, das unſer Schiller die freie Nation der Schweizer hat ſprechen laſſen, gilt auch für uns im tiefſten Moment der Ver⸗ zweiflung, den das deutſche Volk vielleicht bisher durchkoſter hat, das herrliche und ewige Wort: Nein, eine Grenze hat Tyrannenmachttt.t... Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann