648 Sitzung am 17. Wer wie die §ran Kollegin Klockow glaubt, über die Arbeitsloſen die Naſe rümpfen zu müſſen, und wer glaubt, ihre Not nicht anerkennen zu können, der geht an allen Erſcheinungen vorbei, die jeder Tag uns bietet. Ich will Ihnen von all den vielen Tatſachen, die als Belege für die Forderungen der Arbeitsloſen angeführt werden können, nur die eine vorführen. Der Direktor des Statiſtiſchen Amts der Stadt Schöneberg, Dr. Kuczynski, hat vor einigen Wochen darauf aufmerkſam gemacht, wie die Lebensmittelpreiſe der rationierten Lebensmittel ge⸗ ſtiegen ſind. Er hat errechnet, daß der Preis, der im November 1913 noch 3,‚95 ℳ betrug, vom 27. Oktober bis zum 9. November 1919 19,21 ℳ war. (Zurufe bei den bürgerlichen Parteien.) Und Sie, meine Herren, die bei den Beamten die Notlage anerkannt haben, werden ja, wenn Sie die Vorlage ſtudiert haben, dort eine Berechnung der Beamtenſchaft geleſen haben, die nachweiſt, daß für eine Beamtenfamilie mit durchſchnittlich 2,6 Köpfen ein Mindeſteinkommen von 8000 ℳ nötig iſt, um auch nur die allernotdürftigſten Lebensmittel und Anſchaffungsgegenſtände Zu kaufen. Die Arbeits⸗ loſen haben aber, wie Sie aus dem Bericht des Herrn Stadtrats erſehen haben, noch nicht einmal den dritten Teil dieſes Entommene. Bei ihnen herrf ſcht eine außerordentlich große Not, und es iſt ein völliger Mangel an irgendwelchem ſozialen Ver⸗ ſtändnis, wenn man die Verantwortung auf ſich nimmt, dieſe Deſchetrene Forderung der Arbeitsloſen abzulehnen. Die Arbeitsloſen wollen nichts an⸗ deres — und mit dem Betrag, der ihnen hier zuge⸗ billigt würde, können ſie auch gar nichts anderes —, als ſich in den We hnachtsfeiertagen nur einmal ſatt eſſen, ſatt eſſen nicht an luxuriöſen Lebensmitteln, ſondern an Brot und all den anderen Nahrungs⸗ mitteln, die ihnen auf ihre Ration zuſtehen, die ſie ſich jetzt nicht kaufen können. Sie haben vor einigen Tagen in der „Neuen Zeit“ die Mitteilung des Ma⸗ giſtrats geleſen, daß ſo viele Milchkarten verkauft werden. Wer verkauft denn heute ſeine Miſchkarten, wenn er die nötiaen Mittel hat, um ſich Milch zu kaufen? Milch iſt eins der Lebensmittel, das alle Bevölkerungskreiſe, da es auch im Schleichhandel etwas ſchwieriger als ſonſt zu beſchaffen iſt, außer⸗ ordentlich herbeiſehnen. Nur die arme Bevölkerung, zum großen Teil dieſe armen Arbeitsloſen. ſind nicht in der Lage, ihren Kindern, auch den kleinſten Kin⸗ dern, ihren Säuglingen, dieſe Milch zu kaufen. Ge⸗ rade mein Freund Kollege Weidlich, der dieſen An⸗ trag begründet hat, hat in ſeiner nächſten Nachhar⸗ ſchaft, in dem Gebiet, das an den Norden von Ber⸗ lin angrenzt, Feſtſteſlungen gemacht. die zeigen, daß roße Kreiſe der Arbeitsloſen nicht imſtande ünd.; en Kindern von einem Jahr die Milch zu kaufen. reicht, um Brot und Kartoffeln zu kaufen, die t ſchämen, ſie den Armen abzunehmen. Meine Freunde unterbreiten Ihnen dieſen An⸗ Aas. der 1 in durchaus beſcheidenen Grenzen hä eine Einwohnerwehr auf den Hals zu laden. u a ſelbe Summe oder nur einen Teil e . e um e den armen A Karten an die begüterten Leute verkaufen, die ſich Wenn man 500 000 % zur Verfügung hat, um 4 Dezember 191o zu geben, ſo hat man damit dokumentiert, daß man nicht einen Funken ſozialen Verſtändniſſes in ſich trägt. (Sehr gut! bei den Unabhängigen.) Stadtv. Fräulein von Gierke: Wir ſind, wenn uns der Weg zu einer wirklichen Hilfe gezeigt wird, jederzeit bereit, mitzuwirken. Aber die Bewilligung Aeſer Beihilfe iſt keine Hilfe, keine wirkliche Hilfe. Sie würde auch unter die Krankheitserſcheinungen , die kürzlich als „Almoſenpeſt“ bezeichnet wurden. 2 2 (Lachen und Zurufe bei den Unabhängigen.) Ich, die ich ſeit über 25 Jahuen in der ſozialen Arbeit ſtehe, habe immer das Gefühl, daß von dieſer Seite (zu den Unabhängigen) Leute jetzt mitarbeiten mit einem ſehr guten Willen und ſehr guten Herzen. vielleicht auch müt einem kklaren Kopf, aber ohne jede wirlliche Erfahrung in der ſozialen Arbeit. (Stadtv. Dr Broh: Nalürlich, mur Si e) Sie haben das ſo natürliche Gefühl, jeder Not, die man ſieht, möchte man abhelfen. Ich benne das aus teiner Arbeit, ſo häufig ſind die jungen Mädchen in die Arbeit hineingekommen und haben geglaubt, wenn ſie jetzt mitarleiten, dann können ſie in einem Tage alles Unglück und alle die Nöte beheben. (Zuruf von den Unabhängigen: Das verſtehen Sie nicht, weil Sie in den Kreiſen nicht groß ge⸗ worden ſind!) — Ich habe es erlebt, ich kenne wirllich die Dinae, ich weiß, welch großes Unglück die Arbeitsloſtakeit iſt, und ich kann Ihnen verſichern: jahrelang, lange ehe die Erwerbsloſemfrage ſo brennend war, wie ſie haut iſt. habe ich das Schickſal der Arbeitsloſen mit⸗ orlebt und hane geſehen. wie ſchwer die ſtere Gefahr der Arbeitslofigkeit auf vielen Kreiſen unſeres Volkes laſtet, und immer wieder habe ich erkannt, daß man vor allen Dinaen eine Arlritstoſenwerſicherung ſchaffen müſſe. Ich glaube auch noch. daß, wenn wir einmal wieder zu normalen Verhältniſſen kommen ſollten, eine wirkliche Regelung der fenemne ſorge eine der wichtigſten Aufgaben ſein wird. (Stadtv. Dr Broh: In oon ennr wenlen Detere S ſe ſie anf ihre Milchkarte bekommen können, und ( ie deshalb, weil eben die Unterſtützung nicht einmaf