— 211 — 11. Petition der Gemeinde Charlottenburg gegen die Erhöhnng der Getreidezülle. Dem hohen Königlichen Staatsminiſterium beehren wir uns gehorſamſt in Aus⸗ führung eines Beſchluſſes der Stadtverordneten⸗Verſammlung die Bitte vorzutragen: Gegen die Vertheuerung unentbehrlicher Volksnahrungsmittel, insbeſondere gegen die Erhöhung der Getreidezölle bei den bevorſtehenden Berathungen des Bundesraths über die Erneuerung der Handelsverträge einzutreten. Die Stadtverordneten⸗Verſammlung hat in dieſem gegen die Erhöhung der Ge⸗ treidezölle gerichteten Beſchluß die Annahme an die Spitze geſtellt, daß eine ſolche Maßregel zur nothwendigen Folge haben müſſe eine entſprechende Vertheuerung eines der wichtigſten — für die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung wohl des wichtigſten — Volksnahrungs⸗ mittels, nämlich des täglichen Brotes. Wir machen uns dieſe Vorausſetzung vollſtändig zu eigen und erkennen von dieſem Geſichtspunkte aus in dem Beſchluſſe der Verſammlung eine formell und materiell voll be⸗ rechtigte und begründete Ausübung des Rechtes der Gemeindevertretungen, ſich mit allen Gemeindeangelegenheiten zu befaſſen. Denn eine Gemeindeangelegenheit im weiteſten Sinne des Wortes iſt eine Maßregel, welche geeignet iſt, mindeſtens 75 pCt. der Bevölkerung nicht nur in ihrer Ernährung, ſondern überhaupt in ihrer ganzen Lebenshaltung herab⸗ zudrücken. Von 77793 zur Einkommenſteuer für das Steuerjahr 1899 — laut letztem Ver⸗ waltungsbericht — veranlagten Perſonen ſind mehr als , mit einem jährlichen Einkommen von nicht mehr als 1200 ℳ zur Steuer veranlagt und zwar 14727 Perſonen frei, 15451 „ mit einem Einkommen bis zu 420 ℳ, 12910 „ „ „ „ „ 660 ℳ, 8017 7 12 7 / / , 900 a., 6702 7 7/ 7 7 1 % 1050 %., 2114 „ „ 1 „ „ 1200 ℳ 59921 Perſonen. Von dieſer Zahl gehören mehr als 4300) Perſonen denjenigen Einkommenſteuer⸗ klaſſen an, welche ſowohl von der Staatseinkommenſteuer als auch laut örtlicher Normen von Gemeindeſteuerzuſchlägen befreit ſind. Es kann nicht zweifelhaft erſcheinen, daß jede Vertheuerung nothwendiger Lebensmittel auf die Ernährung und die Lebenshaltung dieſer Perſonen einen ungünſtigen Einfluß üben muß. Die großen Gemeindeverwaltungen werden mit Recht auch von den ſtaatlichen Verwaltungsinſtanzen je länger je mehr als die eigent⸗ lichen Träger der ſozialen Aufgaben unſerer Zeit angeſprochen und insbeſondere unſere Verwaltung braucht ſich nicht zu ſcheuen, ſich ſelbſt einzureihen in die Zahl derjenigen Städte, welche gern und unter den Bahnbrechern derartigen Anregungen Folge leiſten. Mit boher Freude und Genugthuung hat uns denn auch die Anerkennung erfüllt, welche unſerer Verwaltung erſt neuerdings durch ein Allerhöchſtes Handſchreiben Ihrer Majeſtät der Kaiſerin zu Theil geworden iſt. Wir würden aber die uns auferlegten Pflichten gröblich vernachläſſigen, wenn wir nicht die Stimme der berufenen Vertreter unſerer Bürgerſchaft — zum Ausdruck gebracht in einem einmüthigen Beſchluſſe aller Theile dorthin weiter⸗ trügen, wo ſie gehört zu werden hofft. Wir enthalten uns pflichtgemäß an dieſer Stelle jedes Urtheils über die allgemein⸗politiſche Frage der Nothwendigkeit der Erhöhung der Getreidezölle zur Unterſtützung der vaterländiſchen Landwirthſchaft, halten uns aber für be⸗ rechtigt und verpflichtet, dem hohen Staatsminiſterium gegenüber auch die Intereſſen der ſtädtiſchen Bevölkerung d. i. der Konſumenten zu vertreten, zumal im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit eines ſo gewaltigen Theiles derſelben. Iſt nun zwar dieſe Erwägung von den ſozialen Aufgaben der großen Gemeinde⸗ verwaltungen im Allgemeinen in hervorragendem Maße ausſchlaggebend geweſen für die Entſtehung des Beſchluſſes ſowohl wie unſeren Beitritt zu demſelben, ſo erſcheinen doch auch einige Geſichtspunkte aus dem Kreiſe der engeren wirthſchaftlichen Pflichten, die uns obliegen, wichtig genug, um ſie nicht unerwähnt zu laſſen. Unſere Stadt iſt die Arbeit⸗ geberin vieler Hunderte von Arbeitern, welche den ſtädtiſchen Haushalt mit ungefähr J 000 000 ℳ an Arbeitslöhnen belaſten. Wir haben erſt neuerdings durch mannigfache Maßregeln der Fürſorge die wirthſchaftliche und ſoziale Lage derſelben beträchtlich gehoben; mit dem Etatsjahre 1900 ſind u. A. durchweg erhebliche Erhöhungen der Löhne unter Einführung regelmäßiger zweijähriger Lohnaufrückungsperioden eingetreten; in Krankheits⸗ fällen erkennt die Stadt grundſätzlich einen Lohnanſpruch in Höhe des halben regelmäßigen Lohnes neben dem Krankengelde pp. bis zur Dauer von 26 Wochen an; für die Ge⸗ währung von Ruhelohn und Hinterbliebenenverſorgung ſind nach dem Vorbilde der Normen für die ſtädtiſchen Beamten neue Grundſätze für die Arbeiter zur Einführung gelangt. Die Vortheile aller dieſer Maßregeln würden verloren gehen, wenn die Ver⸗ theuerung der Lebensmittel den Arbeitern neue Laſten auferlegten — oder aber es müßte die Stadtgemeinde dieſe Laſten durch entſprechende weitere Erhöhung der Löhne pp. auf ſich felbſt übernehmen. Auch auf dem Gebiete der Beamten⸗ und Lehrer⸗Beſoldung würden wahrſcheinlich dieſelben Erſcheinungen zu Tage treten. Auf der anderen Seite aber iſt zu 27*