— 421 — Unzweifelhaft üben hier die neueren Vorbeugemaßregeln in den Fabriken ihre ſegens⸗ reichen Wirkungen und dieſe werden ſich vielleicht in Zukunſt noch ſicherer geſtalten laſſen, wenn eine moglichſt frühzeitige Diagnoſe der ſtattgefundenen Bleivergiftung durch ſyſtematiſche Unter ſuchungen des Blutes der Arbeiter geſtellt werden wird, da nach den Unterſuchungen auf unſerer Abteilung gewiſſe degenerative Veränderungen an den roten Blutzellen ſchon ſehr frühzeitig die Diagnoſe auf Bleivergiftung geſtatten, ſo daß durch rech(zeitige Entfernung des Arbeiters aus dem gefährlichen Betriebe dem Ausbruch ſchwerer Krankheitserſch einungen vorgebeugt werden kann. (Näheres hierüber habe ich in der Berliner Klin. Wochenſchrift 1905 und in einer Diſſertation von Dr. Büſing, Roſtock 1905, veröffentlicht.) Die akuten Vergiftungen, welche hier zur Beobachtung kommen, ſind in der größten Mehrzahl Folgen von Selbſtmordverſuchen, zum kleinen Teil von Unvorſichtigkeiten. Sehr intereffant iſt ein Uberblick über die Art dieſer Vergiftungen. Während in den ſechziger und ſiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Phos⸗ phorvergiftungen wegen der leichten Zugänglichkeit dieſes Giftes beim täglichen Gebrauche der Zündhölzer an Zahl überwogen und in vielen Fällen zum Tode führten. kommen dieſe ſchweren Erkrankungen, ſpeziell die ſog. Phosphorleber bei uns jetzt ſo gut wie garnicht mehr zur Beobachtung Später wurden die Antiſeptika wegen ihrer leichten Zugänglichkeit zur Ausführung von Selbſtmorden bevorzugt, und beſonders das Queckſilberſublimat ſpielt noch bis heute eine wichtige und ſehr gefährliche Rolle und führt nicht ſelten in der qualvollſten Weiſe nach mehrtägigem Krankenlager zum Tode. Sehr ſelten dagegen ſind Todesfälle nach dem Genuß von Sauren, Laugen, Morphium, Arſen und anderen Giften, die oft wegen ihres ſchlechten Geſchmacks nur in ganz kleinen Doſe genoſſen werden, daher unſchädlich ſind, oft aber auch durch geeignete Gegen⸗ gifte gefahrlos beſeitigt werden können. Alle dieſe Gifte werden aber neuerdings an Häufigkeit und Gefährlichkeit überboten durch das Lyſol, welches leider bis vor kurzem im Handverkehr frei verkauft werden durfte. Wie enorm dieſes Gift die Statiſtik der Selbſtmord⸗Vergiftungen beeinflußt, zeigen folgende Zahlen unſeres Krankenhauſes in intereſſanter Weiſe: Während bis zum Jahre 1903 durchſchnittlich 12—14 Vergiftungen mit ver⸗ ſchiedenen Stoffen zur Beobachtung kamen, und im Jahre 1903/04 unter 14 Vergiftungen die erſte Lyſolvergiftung feſtgeſtellt wurde, ſtieg die Zahl der Vergiftungen im Jahre 1904/05 auf 4 4, darunter 18 Lyſolvergiftungen und im Jahre 1905“06 auf 21 Lyſolvergiftungen bei einer Geſamtzahl von 41 Vergiftungen. Von dieſen Lyſolvergifteten ſtarben im erſteren Jahre 4, im zweiten Jahre 3 Patienten, mithin unter 39 im ganzen 7, alſo 18 %. Ohne hier auf die Krankheitszeichen näher einzugehen, ſei hervorgehoben, daß das Lyſol ſchon in mäßigen Doſen ein ſchweres Gift für das Zentralnervenſyſtem darſtellt. Es wird vom Magendarmkanal ſehr ſchnell in die Säfte aufgenommen und wirkt alsdann lähmend auf das Atmungszentrum, ſo daß trotz ausgiebiger Magenſpülungen nicht ſelten der Tod eintritt. Bei dieſen ſchweren Erſcheinungen der Atmungslähmung haben ſich uns nach aus⸗ geführter Magenſpülung am beſten Einatmungen von Sauerſtoff mit künſtlicher Atmung bewährt und es iſt in einigen Fällen nach ſtundenlanger Anwendung des Sauerſtoffes noch gelungen, die vollſtändig gelähmte Atmung wieder in Gang zu bringen und das Leben zu retten Verhältnismäßig günſtig iſt bei dieſer Vergiftung, daß Nachkrankheiten nicht ſo ſehr zu fürchten ſind, wie z. B. bei Sublimat, Säuren. Laugen uſw. Nicht ſelten kommt es vor, daß Patienten in ihrer Bewußtloſigkeit Lyſol in die Luftwege einziehen, worauf eine heftige fieberhafte Luftröhrenentzündung erfolgt, die aber durchaus gutartig verläuft. (Ausführliches hierüber hat Herr Aſſiſtenzarzt Dr. Géronne in einer Diſſertation „Über Lyſol“, Leipzig 1906, veröffentlicht.)