— 14 — Dreſſel eine längere Darſtellung (es iſt zwar in der vorliegenden Form kein eigentliches Tagebuch, ſondern eine ſpätere Aufzeichnung, geht aber ſicher auf gleichzeitige Aufzeichnungen zurück): Von der ſogenannten Städteordnung, welche in dieſem Jahre in unſerem Lande eingeführt ward, hier zu reden und ſie zu beurteilen, iſt hier der Ort nicht. Soviel iſt gewiß, daß, wenn alle ſo wären, wie ſie ſein ſollten, ſo würde viel Gutes unter ihnen dadurch ge iftet werden können, auch wird ſie hie und da manches Gute bewirken, aber auch, da die wenigſten das ſind, was ſie ſein ſollten, viel Streit und Unheil anrichten. Dieſe Städteordnung ward denn auch hier in Char⸗ lottenburg eingeführt, und am 3. Auguſt ward Magiſtratus in der Kirche eidlich verpflichtet. Der p. Dreſſel, — er ſpricht von ſich ſelbſt in dritter Perſon — welcher ſich mehr Gutes als Böſes von dem neuen Magiſtrat verſprach, zumal da er durch ſeinen Einfluß tätigſt auf die Wahl manches Einzelnen hingewirkt hatte, weil der erwählte Stadtver⸗ ordnetenvorſteher, Maurermeiſter Wartemberg, ſich beſtändig ſeines Rates bediente, ließ daher willig alles das geſchehen, was man in der Kirche für Zubereitungen zu dieſer Feierlichkeit ver⸗ anſtalten wollte. Er ſelbſt ſuchte dies Feſt durch gute Anordnungen, Geſänge, Muſik, Reden und Bewillkommnung des Magiſtrats an der Türe zu verherrlichen. Der ganze Lohn dafür war, daß man ihn nach geendigter Feierlichkeit zu Tiſche nötigte und nachher, wo man nur wußte und konnte, ſich mit ſeinem Patronate brüſtete, ohne Rückſicht, daß er ſchon dreißig Jahre und länger hier Prediger war und ſchon ſeine Verhältniſſe mit dem Magiſtrat kannte, ehe mancher geboren war. Eigentlich endigte ſich mit dieſem Tage das zufriedene und glückliche Leben des Oberprediger Dreſſels in Charlottenburg. Nur zehn Jahre früher mußte das kommen, ſo hätte er ſich anderer Maßregeln bedient; ſo aber mußte er aushalten, immer auf Hoffnung, daß es noch einmal beſſer werden würde. Die Kirche war an dieſem Tage ſo ſchön und geſchmackvoll mit Girlanden von Blumen, Orange⸗ bäumen, Töpfen mit den ſchönſten Blumen dekoriert, beſonders das Altar und die Kanzel, daß es eine Luſt war, es zu ſehen. Es war gerade der Geburtstag des Königs; darum hatte man die Büſte desſelben auf den Platz vor dem Altar hingeſtellt und mit Girlanden ausgeputzt — an zwölf der ſchönſten Orangebäume ſtanden an den Seiten und vor dem Altar in Reihen, worunter Magiſtratus und die Stadtverordneten ſitzen ſollten. Vierundzwanzig weiß angezogene Mägdchens, mit Kränzen und Girlanden von Eichenlaub verſehen, ſtreuten dem Magiſtrat Blumen vor, beim Eintritt in die Kirche. Als die Magiſtratsperſonen und Stadtverordneten im Zuge vom Rathauſe an unter Glockengeläute in die Kirche traten, bewillkommte ſie der Oberprediger an der Türe und führte ſie vor den Altar, wo die Stühle ſtanden. Der Bürgermeiſter Sydow und der Stadtver⸗ ordnetenvorſteher Wartemberg hatten zwei Seſſel mit Seide überzogen und ſtark vergoldet, die übrigen ſaßen auf Rohrſtühlen. (So machen gut gemeinte Höflichkeitserzeigungen am Ende die Leute ſtolz und bilden ſich am Ende ein, das zu ſein, was ſie doch nur ſcheinen ſollten). Nach dem Geſange mit Muſit⸗, Trompeten⸗ und Paukenbegleitung predigte der Oberprediger vor einer ungeheuren Menge Menſchen trotz ſeines Katarrhs über Pſalm 85. Die Predigt ward gedruckt und verteilt, verſteht ſich auf des Verfaſſers Koſten. Nach der Predigt vereidete der Steuerrat Stricker den Magiſtrat vor dem Altar. Den Beſchluß machte das Lied: „Herr Gott, dich loben wir.“ So iſt's: für ſo manche edle Gabe wird Gott nicht gelobt, und wo man ein Kyrieeleiſon ſingen ſollte, da lobt man ihn mit Pauken, Pfeifen und Zymbeln. Der Pſalm, den der Oberprediger „trotz ſeines Katarrhs“ der Predigt zugrunde legte, iſt mit meiſter⸗ haftem Taktgefühl ausgeſucht. Der Pſalm zerfällt in zwei Hälften: die erſte enthält eine ſehr deutliche Anſpielung auf Erlöſung von der Fremdherrſchaft, auf Befreiung aus dem Exil: der zweite Teil des Pſalms zeichnet das Bild eines wohlgeordneten und friedlich zuſammengehaltenen Gemeinweſens, dem als Parole vorgehalten wird, „daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede ſich küſſen“. Der Mann, der in dieſer Zeit dieſen Predigttext herauszufinden wußte, war kein geiſtig unbe⸗ deutender Mann. Wir ſehen an ſeiner Schilderung, wie ſelbſt die Spitzen, die geiſtig hochſtehenden Elemente der Bürgerſchaft noch weit entſernt davon waren, die Größe dieſes Geſetzes zu ahnen, ja auch nur ſeine Elemente zu verſtehen. Der Verfaſſer dieſes Tagebuchs ſagt: wenn alle Menſchen ſo wären, wie ſie ſein ſollten, dann wäre ein ſolches Selbſtverwaltungsgeſetz ein gutes Geſetz. Genau das Gegenteil iſt der Fall: wenn alle Menſchen ideal wären, dann brauchten wir weder Städteordnungen, noch überhaupt Geſetze. Die Geſetze ſind gerade deswegen berechtigt, weil die Menſchen unvollkommen ſind, und der Geſetzgeber muß damit rechnen, daß er es mit unvollkommenen Menſchen zu tun hat, er muß ihnen Aufgaben ſtellen, durch die ſie höher herangebildet werden. Aber auch die Angſt vor dem Streit, der nun entſtehen würde! Der Streit iſt der Vater aller Dinge, der Streit iſt auch der Vater aller Leiſtungen in einem menſch⸗ lichen Gemeinweſen, und es kann kein blühendes Gemeinweſen geben, ohne daß Meinungsverſchieden⸗ heiten in ihm durch Streit ausgefochten werden. Und wie kleinlich war der Standpunkt des Geiſtlichen, wie kleinlich die perſönlichen Intereſſen, mit denen die Einzelnen an ſtädtiſche Angelegenheiten heran⸗ gingen, da, wo ihnen die enge alte Verfaſſung zufällig einmal einen Einfluß geſtattete! Da war es denn die große Aufgabe des Staates, den Bürger nicht ab und zu einmal durch ein Loch in die Ratsſtube ſchlüpfen zu laſſen, damit er um ſo eiferſüchtiger darüber wache, daß der ſeltene Einfluß ſich auch in der perſönlich erwünſchten Richtung geltend mache, ſondern das breite Tor zu öffnen und darauf zu vertrauen, daß der Einfluß edler und freier ſich geſtaltet, wenn er mit vollen Händen geſpendet wird. Wenn es irgendein Geſetz gibt, das mit deutlichem Bewußtſein von den Unvollkommenheiten der menſchlichen Natur in Kraft geſetzt wurde, ſo iſt es die Steinſche Städteordnung. Die Städteordnung hat das Zutrauen dazu gehaht, daß die Menſchen beſſer und höher werden, wenn man ihnen gute und hohe Aufgaben ſtellt. Sehen wir, ob dieſes Exveriment ſich bewährt hat. Einen Maßſtab für die Bewährung eines alten Geſetzes findet man, wenn man die Verhältniſſe betrachtet, unter denen es urſprünglich erlaſſen wurde, und die Verhältniſſe, unter denen es in der Folgezeit angewandt werden mußte. Je verſchiedener die Verhältniſſe ſind, unter denen ein Geſetz ſich mit Erfolg gehalten hat, deſto höher wird ſeine Bewährung zu veranſchlagen ſein. Erſtens: Was iſt eine Stadt heute, und was war ſie damals? Berlin mit 200 000 Einwohnern war damals eine gänzlich iſolierte Erſcheinung im Königreich Preußen; daneben zählten nur Breslau und Königsberg über 50 000 Einwohner. Denn in der Monarchie, für die Stein dieſe Städteordnung ſchuf, fehlten die weſtlichen Territorien ganz, Danzig war zur Republik erklärt. Der Typus einer ange⸗ ſehenen Stadt, wie z. B. Frankfurt a. O., Magdeburg, Poſen, Stettin, liegt in jener Zeit zwiſchen 15 000 und 30 000 Einwohnern. Heute beſitzt das Königreich Preußen 28 große Städte mit über 100 000 Ein⸗ wohnern, und 25 000 Einwohner iſt die Grenze, unterhalb deren der Preußiſche Städtetag keine Mit⸗ glieder mehr aufnimmt. Dazu kommen die großen geographiſchen Verſchiedenheiten. Die Steinſche bezirken, hat ſie auch nachher in den mittleren Provinzen Geltung erhalten. Trotz aller ſpäteren Ande⸗ rungen iſt das Prinzip dasſelbe geblieben, und wenn ein Geſetz unter ſo gänzlich veränderten Verhältniſſen nach hundert Jahren immer noch ſo Anwendung findet, daß ſelbſt diejenigen, die Anderungen für not⸗ wendig halten, ſie um keinen Preis ſo durchſetzen wollen, daß etwa die Prinzipien geändert werden —