— 16 — was wir ſtädtiſche Autonomie innerhalb des Staates nennen, beruht das gute Verhältnis zu den am Orte befindlichen Staatsbehörden, das da, wo ſtädtiſche und ſtaatliche Behörden an demſelben Werke zuſammen⸗ wirken, die Regel bildet. Der Gedanke der ſtädtiſchen Autonomie, daß eine Stadt nicht gehindert werden dürfe, etwas Neues für ihre Bürger zu tun, es ſei denn, daß es durch Staatsgeſetz ausgeſchloſſen iſt — dieſer Gedanke wirkt ſo mächtig, daß die Staatsbehörden den Grundſatz wenigſtens nicht antaſten. Dieſes gute Verhältnis zu den Staatsbehörden zeigt ſich darin, daß auch an unſerem Feſte am heutigen Tage 0 Vertreter der Staatsbehörden, die in unſerem Gemeindebe ʒirk ihren Sitz haben, als unſere Gäſte teilnehmen. Drittens hat ſich aber auch der Begriff des Bürgertums ſelbſt, jenes Bürgertums, das Träger der Selbſtverwaltung ſein ſollte, ſeit jenen Zeiten gewaltig geändert. Zu Steins Zeiten war der Typus des Bürgers immer noch der hausanſäſſige oder mindeſtens der wohlhabende Mann; ſelbſt in den Hand⸗ werkerkreiſen galt als Typus der wohlhabende Handwerker in guten Verhältniſſen. Dies hat ſich bedeutend geändert. Die Zeiten, in denen es die Regel war, daß ein Mann, der etwas vorſtellte, im eigenen Hauſe wohnte, ſind längſt vorüber; groß und mächtig iſt die Bewegung, die verlangt, daß alte Geſetze, die hierauf beruhten, aufgehoben werden ſollen. Es liegt uns gänzlich fern, an einem Tage wie dem heutigen über dieſe Frage eine Anſicht ausſprechen zu wollen; aber je ſchärfer die Stimme der Kritiker iſt, je energiſcher und entſchiedener ſie betonen, daß jene (und manche ähnlichen ſpäter hinzugekommenen) Privilegien ſich mit den heutigen Zuſtänden nicht mehr vertragen — um wieviel größer iſt der Ruhm eines Geſetzes, das trotz eines ſo bedeutenden Fehlers ſeine Wirkung entfalten konnte! — Und neben der allgemeinen Umwandlung, die eine Verengerung des Kreiſes der Wohlhabenden zur Folge hatte, zeigte ſich im Zeit⸗ alter der großen induſtriellen Entwicklung eine gänzliche Veränderung der ſozialen Geſtaltung durch das Emporkommen eines neuen Maſſenſtandes der Induſtriearbeiter. Dieſe Entwicklung war um die Zeit Steins in ſo geringen Anfängen, daß ſie nicht beachtet werden konnte. Sie hat ſich erſt ſpäter und auch dann nur langſam vollzogen. Sie iſt den Staatsmännern lange unbekannt geblieben; man kann ſagen: erſt in den Städten hat man entdeckt, daß das deutſche Volk in allem Weſentlichen ein Volt von Arbeitern iſt. In der ſtädtiſchen Selbſtverwaltung ſind die neuen Aufgaben, die daraus erwuchſen, in vollem Umfange erkannt worden — eine Bereicherung des Ideenſchatzes, die niemand vorher ahnen konnte. — Endlich aber hat ſich die Bevölkerung gänzlich umgewandelt nach der Gebürtigkeit. Zu Zeiten Steins war es die Regel, daß, wer in einer Stadt Bürger war, in ihr geboren war. Die Bürger betrachtete man in der Regel als geborene Einwohner der Stadt. Heute iſt das kaum in irgendeiner größeren Stadt die ſelbſtverſtändliche Regel, und wir in unſerer Gemeinde wiſſen ja, wie ſelten es bei uns der Fall iſt. Die Statiſtik weiſt nach, daß nur jeder fünfte Einwohner bei uns ein geborener Charlottenburger iſt. Und dieſe Statiſtik täuſcht; denn in dieſer Statiſtit ſind die kleinen Kinder enthalten, die auch beim beſten Willen nicht anderswo als in Charlottenburg zur Welt kommen konnten. Spricht man von den Erwachſenen oder von den Bürgern, ſo wird nur jeder Zehnte, vielleicht nur jeder Zwanzigſte ein geborener Charlottenburger ſein. —— Woher gibt es in einem ſolchen Gemeinweſen ein Bürgertum? Woher gibt es hier einen Bürgerſinn? Charlottenburg iſt das großartigſte Beiſpiel dafür, daß eine Städteordnung nicht nur auf Bürgerſinn zu er bauen iſt, ſondern daß eine Städteordnung imſtande iſt, den Bürgerſinn zu ſchaf fe n. Wir wiſſen, wie ſchwer es iſt, in dem Flugſande großſtädtiſcher Entwicklung Strandhafer zu ſäen. Die erſten Körner, die ausge⸗ ſtreut wurden, waren die bürgerlichen Ehrenämter, die gewiſſermaßen von oben nach unten, erſt in enge, dann in immer weitere Kreiſe hinein ihre Wirkſamkeit entfalteten. Die Ehrenämter haben in ihren Trägern das Bewußtſein erweckt, Charlottenburger Bürger zu ſein. Wir maßen uns nicht an, das in einer Generation zu leiſten, was andere Städte in vielen aufeinanderfolgenden Generationen geſchaffen haben. Dafür aber haben wir das erhebende Bewußtſein, daß wir ſelbſt an dem allmählichen Aufkommen, an der Ein⸗ pflanzung eines Bürgerſinnes arbeiten, daß wir darin durch das weiſe und regelnde Geſetz unterſtützt, ja, daß wir erſt dadurch dazu befähigt werden. Hier bei uns wird die Bedeutung des Ehrenamtes erkennbar, das den Bürger an ſein Gemeinweſen feſſelt. Nur eines iſt vielleicht an dem ſtädtiſchen Ehrenamte nicht fein und zart geregelt: das iſt ſeine Bezeichnung. Auf die Städteordnung geht die Bezeichnung als „Un⸗ beſoldete“ zurück. Wir empfangen unſern Sold reichlich; wir empfangen ihn in Gegengaben, die koſtbarer ſind als Gold und Silber: in der Bereicherung unſerer Perſönlichkeit durch die hier gebotenen Erfahrungen, durch das Zuſammenwirken mit Männern, die das Vertrauen der Bürgerſchaft berufen hat; wir empfangen ihn durch die Gegengabe der Zügelung der eigenen individuellen Neigungen im Hinblick darauf, daß ein großes Gemeinweſen nicht anders beſtehen kann als dadurch, daß auf die verſchiedenen Indi⸗ vidualitäten Rückſicht genommen wird! Werfen wir nun einen Blick darauf, wie das Verhältnis der ſo geformten Stadtgemeinde zum Staate im ganzen ſich geſtaltet hat. Da ſteht an erſter Stelle die Einrichtung der Staatsaufſicht. Es iſt ein weit verbreiteter Irrtum, daß die Träger der ſtädtiſchen Selbſtverwaltung Gegner der Staatsaufſicht ſeien. Wir ſind ſo weit entfernt davon, eine Aufſicht über unſere Verwaltung für überflüſſig zu halten, daß jeder von uns, wenn die Geſetze eine ſolche Aufſicht nicht konſtituierten, dafür ſein würde, ſie zu ſchaffen. Wenn es Meinungsverſchieden⸗ heiten darüber gibt, ſo gehen ſie auf drei Punkte zurück, in denen unſere Wünſche das Prinzip der Staats⸗ aufſicht keineswegs antaſten. Erſtens: wir wünſchen nicht, daß unter dem Namen der Aufſicht eine Mitverwaltung geführt werde. Wir haben geſehen: die Aufſicht iſt gerade deswegen heilſam, weil der, der ſie ausführt, nicht ein Glied der unteren Verwaltung iſt. Wir ſahen: die Aufſicht war notwendig neben der Kontrolle. Für die Kontrolle iſt ausreichend durch die Stadtverordneten geſorgt. Die Aufſicht kann alſo nicht tun, was ſie zu tun berufen iſt, wenn ſie danach ſtrebt, eine Mitverwaltung zu werden. Zweitens — und auch das betrifft nicht das Prinzip —: wir wünſchen, daß, wenn der Staat Organe ausbildet, die ſeine Aufſicht ausüben ſollen, ſie nicht ausſchließlich oder in überwiegender Mehrheit und prinzipiell aus dem platten Lande genommen werden. Wir können einen Zuſtand nicht billigen, in dem geſagt wird: über bürgerliche Angelegenheiten entſcheiden in unterſter Inſtanz die Städter, in höherer die Vertreter des platten Landes. Drittens haben wir den harmloſen Wunſch, es möge niemand ſich ſelbſt als Freund der Selbſtver⸗ waltung bezeichnen lediglich deswegen, weil er loval entſchloſſen iſt, ſie als Ausnahme zu dulden. Nach unſerer Auffaſſung iſt die Selbſtverwaltung nicht eine zuläſſige Ausnahme im Staatsleben; ſondern ſie iſt das Fundament, auf dem ſich auch der Staat erhebt. Darin zeigt ſich nun die andere Seite des Verhältniſſes von Selbſtverwaltung und Staat: die Selbſt⸗ verwaltung will nicht bloß die Empfangende, ſie will auch die Spendende ſein gegenüber dem Staat. Sie, die ſtädtiſche Selbſtverwaltung, verkörpert in kleinem Maßſtabe das, was der Staat in großem ver⸗ förpern ſoll. Die ſtädtiſche Selbſtverwaltung hatte nach Steins ausgeſprochenen Abſichten die Miſſion, die Selbſttätigkeit des Bürgers wie an einem Beiſpiele zu erproben, ſie dann aber durchzuführen von der Dorfgemeinde bis zum Parlament. Auch dieſe Miſſion hat die ſtädtiſche Selbſtverwaltung ausgeführt. Das zeigt ſich deutlich in dem veränderten Begriff des Bürgers, worunter man in früheren Zeiten nur den Einwohner der Stadt verſtand, und worunter man heute jedes berechtigte Glied des Staatsweſens verſteht. Der Begriff des Bürgertums, in den Städten ausgebildet, iſt nachher auf das ganze Staats⸗ gebiet übertragen worden.