—.442 — So alſo betrachten wir die ſtädtiſche Selbſtverwaltung nicht in einem Gegenſatz zum ſtaatlichen Leben. Überzeugt, daß die Selbſtverwaltungskörper mit Recht dem ſtaatlichen Willen eingefügt ſind, hoffen wir, daß ſie die Zelle darſtellen, aus der ſich auch in zukünftigen Jahrhunderten, wie in dem ab⸗ gelaufenen, immer neue Körperformationen entwickeln. In den Städten herrſcht ein Geiſt, der nie vergißt, was der Bürger dem Vaterlande ſchuldet. Suchen wir alles zuſammenzufaſſen, worin nach verſchiedenen Seiten ſich die Bedeutung der Steinſchen Städteordnung zeigt, ſo werden wir unter etwas weiteren Geſichtspunkten ſagen können: wir haben hier nicht ſowohl ein Stück preußiſcher oder deutſcher Geſchichte als ein Stück Geſchichte der Menſchheit. Die Entwicklung der Städteordnung iſt ein Stück aus der Geſchichte der Wiederentdeckung des Individuums. Soziale und individuale Triebe ſind die beiden Pole menſchheitlicher Entwicklung. Lange war das Individuum verkannt, und der ſoziale Körper in Geſtalt einer ſtarken Staatsgewalt ſuchte die Bedürfniſſe auch des Indipiduums vormundſchaftlich zu befriedigen. Das achtzehnte Jahrhundert hat das Individuum von dem Zwange auf religiöſem Gebiete befreit, die franzöſiſche Revolution auf politiſchem Gebiete; aber das Problem war damit nicht gelöſt. Das Problem lautete nicht: Befreiung des Individuums, ſondern es lautete: auf der einen Seite ein freies Individuum, auf der andern Seite aber auch Nutzbarmachung ſeiner Kräfte für das Gemeinweſen. Aus dem Jahre 1808, aus demſelben Jahre, in dem die Städteordnung verkündet wurde, ſtammen zwei große literariſche Denkmäler, die jenes Problem von Individuum und Gemeinweſen behandeln: es ſind „Fichtes Reden an die deutſche Nation“ und der erſte Teil des „Fauſt“. Fichtes Reden wollen zeigen, wie in Form einer gänzlich veränderten Erziehung ein Geſchlecht herangebildet werden müßte, das Ziel und Aufgabe allen individuellen Lebens in dem Dienſte für den Staat erblickt. Fauſt ſoll die höchſte Entwicklung eines Individuums darſtellen, das gleichwohl unbefriedigt bleibt; die Betätigung an prak⸗ 441 Aufgaben eines großen Gemeinweſens als Löſung des Problems hat nachher der zweite Teil gebracht. Zu allen Zeiten iſt es nötig, dieſe Löſung zu beherzigen: nur im Individuum liegen die ſtarken Wurzeln der Kraft für jedes Gemeinweſen, und nur im Gemeinweſen liegt das Betätigungsfeld, auf dem ein Individuum imſtande iſt, ſeine individuellen Kräfte voll nach allen Seiten hin zu entwickeln. Nie kann ein Volk wiſſen, wie nahe die Zeit iſt, in der es dieſe Lehre braucht. Und darin liegt di Be⸗ rechtigung von Gedenkfeiern, die wie die heutige uns an die Zeiten erinnern, in denen dieſe großen literariſchen Denkmäler und dieſes weiſe Geſetz in demſelben Jahre dasſelbe predigten: die Pflichten der Einzelnen gegen das Gemeinweſen und die Pflichten der Einzelnen gegeneinander. Und darum können wir dieſe Betrachtung nach hundert Jahren wohl nicht würdiger ſchließen, als indem wir unſerem Ge⸗ meinweſen die Worte zurufen, mit denen damals jener Prediger das erſte Auftreten der Städte⸗ ordnung in unſerem Gemeinweſen begrüßte: „Faß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede ſich küſſen!“ Hierauf brachte der Oberbürgermeiſter die vorerwähnten Beſchlüſſe der ſtädtiſchen Körperſchaften mit folgender Anſprache zur öffentlichen Kenntnis: Die ſtädtiſchen Körperſchaften Charlottenburgs haben die hundertjährige Wiederkehr des Geburts⸗ tages der Städteordnung freudig zum Anlaß genommen, um in erſter Reihe einen auch nach außen hin in Erſcheinung tretenden Ausdruck zu verleihen den Gefühlen der bewundernden Verehrung und tiefen Dankbarkeit des ſtädtiſchen Bürgers gegenüber dem Freiherrn vom Stein und deſſen großen Gedanken der ſtädtiſchen Selbſtverwaltung, mit denen er die Grundlage legte zu einer in der Geſchichte des preußiſchen Staatslebens bisher nicht gekannten und nicht geahnten Blüte der preußiſchen Städte. Die ſtädtiſchen Körperſchaften haben dann aber auch in zweiter Reihe den Wunſch gehabt, den Gefühlen Ausdruck zu geben, die ſie voll dankbarer Anerkennung hegen gegenüber den Tauſenden Männern und Frauen, die im Ehrendienſte der Stadt in ſtiller, ſelbſtloſer, hingebender, aufopfernder langjähriger Arbeit, die nicht geehrt oder hervorgehoben wird durch äußere Gunſt⸗ und Ehrenbezeigungen, in Ver⸗ gangenheit, in Gegenwart und Zukunft gewirkt haben, wirken und wirken werden im Intereſſe des Gemeinwohls. Infolgedeſſen haben die ſtädtiſchen Körperſchaften, wie folgt, beſchloſſen: 1. aus ſtädtiſchen Mitteln eine Stiftung unter dem Namen „Freiherr vom Stein⸗Stiftung“ mit einem Kapital von 100 000 ℳ zu errichten zur Unterſtützung von hilfsbedürftigen Perſonen, die im Ehrendienſte der Stadt tätig geweſen ſind, und deren Hinterbliebenen; 2. zur Errichtung eines künſtleriſch ausgeſtatteten Brunnens auf dem Steinplatze zum Gedächtnis des Freiherrn vom Stein aus ſtädtiſchen Mitteln ein Kapital von 50 000 ℳ bereit zu ſtellen und außerdem für dieſen Zweck das Kapital der der Stadtgemeinde Charlottenburg von ihren Mitbürgern zugewendeten Stiftung zur Errichtung eines Jubiläumsbrunnens in Höhe von etwa 20 000 ℳ zu verwenden. Im Namen der ſtädtiſchen Körperſchaften gebe ich am heutigen Tage von dieſem Beſchluß öffentlich Kenntnis. Wenn heute überall in den Städten unſeres engeren preußiſchen Vaterlandes die ſtädtiſchen Bürger ſich zu einer ernſten Feier des heutigen Gedenktages verſammeln, an dem vor hundert Jahren die Selbſt⸗ verwaltung in das preußiſche Staatsleben trat, ſo geſchieht das nicht etwa nur in dem Sinne, als ob die Selbſtverwaltung nur ein Gut ſei des ſtädtiſchen Bürgers, nur ein Gut der Stadt oder der Geſamtheit der Städte, nein, es geſchieht vielmehr in der unerſchütterlichen, feſtgegründeten Überzeugung, daß die Selbſtverwaltung ein höchſtes Gut des ganzen Staates iſt, ohne welches das Vaterland nicht gedeihen kann. Die Selbſtverwaltung iſt die Quelle opferbereiter Vaterlandsliebe, ſie iſt die Quelle der Macht und der Kraft und der Stärke unſeres Vaterlandes. Tauſende von in Vaterlandsliebe erglühenden Männer⸗ herzen ſchlagen am heutigen Tage höher in der Erkenntnis dieſer Wahrheit, die uns die letzten hundert Jahre gereift haben, und der heiße Wunſch ſteigt auf und empor in ihre Seelen, daß den ſich mehr und mehr geltend machenden Beſtrebungen zur Beeinträchtigung der Selbſtverwaltung Einhalt getan werde, daß vielmehr die großen Steinſchen Gedanken für den Ausbau unſeres Staatslebens einen immer größeren Spielraum erhalten möchten zum Beſten, zum Schutze des Vaterlandes. Möchten am heutigen Tage alle vaterlandsliebenden Bürger ein ſtilles Gelöbnis ablegen, in Zukunft jeder an ſeinem Teil, jeder an ſeiner Stelle unermüdlich dahin zu wirten, daß das große Ziel des Ausbaue⸗ des preußiſchen Staatslebens im Sinne jener gewaltigen Gedanken des Freiherrn vom Stein verwirklicht werde, auf daß in den ſturmumbrauſten Zeiten der künftigen Kämpfe, die an Deutſchland nicht vorüber⸗ gehen werden, geſichert ſei die Macht, die Kraft und die Stärke des geliebten Vaterlandes! Das walte Gott. Aus Anlaß des Jubiläums der Städteordnung wurde dem Oberbürgermeiſter Schuſtehrus der Rote Adlerorden 1II. Klaſſe mit der Schleife verliehen.