— 156 — Schon im vorigen Bericht war auch eine ungewöhnlich ſtarke Zunahme der Inan⸗ ſpruchnahme ar menärztlicher Hilfe zu verzeichnen, die gleichfalls als ein Zeichen der Wirtſchaftslage aufgefaßt werden mußte. Im Jahr 1908 iſt eine weitere, ja noch größere Steigerung eingetreten: die Zahl der Kranken iſt um 16,5 vom Hundert, die der Beſuche um 11 vom Hundert, die der Konſultationen in der Sprech⸗ ſtunde ſogar um 18 vom Hundert gegen das Vorjahr mit ſeinen ſchon ſehr ſtarken Steigerungen geſtiegen. Allerdings hat hierzu wenigſtens zu einem kleinen Teile eine organiſatoriſche Neuerung beigetragen: die Zulaſſung un mitte lbarer Über⸗ weiſung unbemittelter, vom Schularzt krank befundener Schulkinder durch die Schulen zur Behandlung an die Stadtärzte. Nach Schluß des Berichts⸗ jahres iſt hier ein weiterer Schritt zur Erleichterung ärztlicher Hilfe für Arme erfolgt: die unmittelbare überweiſung armer Kranker auch durch die Säug⸗ lingsfürſorgeſtellen und die Fürſorgeſtelle für Lungenkranke an die Stadtärzte. Der Fürſorge für Lungenkranke iſt auch im Berichtsjahre beſondere Aufmerkſamkeit gewidmet, und von Heilſtätten, Walderholungsſtätten und Pflegeheimen ausgiebiger Gebrauch gemacht worden. Der neu eingeführte Winterbetrieb in einzelnen Erholungsſtätten gab zum erſten Male die Möglichkeit, wenn auch nur in kleiner Zahl, Kranke auch im Winter tagsüber ins Freie zu entſenden. Im ganzen ſind 1908 1002 Perſonen in Walderholungsſtätten überwieſen worden. Da⸗ neben hat die ſtädtiſche Fürſorgeſtelle für Lungenkranke auch für die in ihren Wohnungen verbleibenden Kranken und ihre gefährdeten Familien alle ſonſt erforderlichen Maßnahmen getroffen und dafür häufig auch die Mittel der Armenverwaltung in Anſpruch genommen. Mit dem Schluß des Berichtsjahres iſt dabei eine grundlegende Anderung dahin erfolgt, daß aus Mitteln der Armenver waltung nur ſolche Perſonen in Heilſtätten, Er⸗ holungsſtätten und Pflegeheime entſandt werden, die bereits laufende Armen⸗ unterſtützung erhalten; für alle übrigen trägt künftig der Etat der Geſund⸗ heitspflege die Koſten, und die Organe der Armenpflege wirken bei der Prüfung und Entſcheidung nicht mehr mit. Auch der Bekämpfung der Trunkſucht iſt weiter Aufmerkſamkeit ge⸗ widmet worden, wenn auch nur wenige Perſonen in Trinkerheilſtätten entſandt worden ſind. Im Laufe des Berichtsjahres ſind für Groß⸗Berlin drei Auskun ft⸗ und Fürſorgeſtellen für Alkoholkranke eröffnet worden, denen nach Schluß des Jahres eine weitere in Charlottenburg ſelbſt gefolgt iſt, und denen auch von der Armenverwaltung Alkoholkranke überwieſen worden ſind. Für die aus Trinkerheilſtätten entlaſſenen unbemittelten Kranken, die ſtändig den Guttemplern zugeführt werden, und ebenſo für andere auf Veranlaſſung der Armenverwaltung den Guttemplern beige⸗ tretene Perſonen ſind wie bisher nötigenfalls die Koſten des Eintritts und die laufenden Beiträge für die Loge von der Armenverwaltung ge⸗ tragen worden. Als ein neuer Zweig der armenärztlichen Fürſorge iſt im Berichtsjahre die Für⸗ ſorge für Krüppel hinzugetreten. Wenn auch ſchon früher hier und da einzelne Kinder Krüppelheimen überwieſen worden waren, ſo hat doch erſt die im ganzen Reiche vorgenommene Krüppelzählung und die Eröffnung der Berlin⸗ Brandenburger Krüppelheilanſtalt Anlaß zu einer umfaſſenderen Für⸗ ſorge gegeben. Die Bemühungen, Krüppel, wenn irgend möglich, erwerbsfähig zu machen und zu einer geeigneten Tätigkeit auszubilden, werden, wie die Erfahrung anderwärts gezeigt hat, in einer großen Zahl von Fällen zum Erfolg führen und ſo ſchließlich ſogar eine Entlaſtung der Armenpflege zur Folge haben. Im Berichtsjahre ſind nur einige Kinder der Anſtalt zugeführt worden, in den Etat des neuen Jahres aber erhebliche Mittel dafür eingeſetzt worden. Auch für kranke Säuglinge hat die Armenverwaltung im Berichtsjahre in erhöhtem Maße Fürſorge geübt, indem ſie die Koſten der Behandlung von 74 Kindern in der Ende 1907 eröffneten Charlottenburger Säuglingsklinik über⸗ nommen hat. Auf enge Fühlungnahme mit der Privat wohltätigkeit iſt auch im Berichtsjahre hingewirkt worden. Insbeſondere mit der Vereini gung der Wohltätigkeitsbeſtrebungen hat die Armenverwaltung wie bisher in ſtändiger täglicher Verbindung geſtanden, und ihre Organe haben an deren monatlichen Sitzungen zahlreich teilgenommen. Wie ſeit vielen Jahren, iſt auch diesmal bei der Weihnachtsbeſcheerung von der Armendirektion auf möglichſte Verſtändigung aller, die Gaben zu verteilen beabſichtigten, hingewirkt worden. Von den im Wege der Armenpflege unterſtützten 8790 Perſonen oder Familien hatten 6335, d. h. etwa 72 vom Hundert, ihren Unterſtützungswohnſitz in Char⸗ lottenburg. Von den in ſtädtiſche Koſtpflege genommenen Kindern (1240) waren 719, d. h. 58 vom Hundert, in Charlottenburg ortsangehörig. Die am 1. April 1909 in Kraft getretene Novelle zum Unterſtützungswohnſitzgeſetz wird hier bei den u hinzutretenden Fällen vorausſichtlich eine nicht unerhebliche Verſchiebung herbei⸗ ühren.