195 — Will man das Leben des Säuglings wirkſam ſchützen, ſo bedarf es dazu in erſter Reihe des Schutzes der Mutter. Dieſer Schutz ſetzt in Charlottenburg bereits vor der Geburt des Kindes ein. Schon einige Wochen vor der Geburt des Kindes wird den künftigen Müttern für Rechnung der Stadt durch den Hauspflegeverein, meiſt in Geſtalt eines kräftigen Mittageſſens, eine ſogenannte „Vorernährung“ zu teil, um ſie nach Möglichkeit in den Stand zu ſetzen, ihr Kind ſpäter ſelbſt zu nähren. Im Jahre 1908 haben 308 künftige Mütter dieſe Vorernährung erhalten. Außer den allgemeinen Koſten von 2130,30 ℳ ſind dafür von der Stadt 2630 ℳ, durchſchnittlich 8,54 ℳ, aufgewendet worden. In der Entbindungsanſtalt des ſtädtiſchen Krankenhauſes Kirchſtraße erhalten weiter Schwangere, die ein anderes Unterkommen nicht haben, ſchon längere Zeit vor der Entbindung unentgeltlich Auf⸗ nahme, nur mit der Verpflichtung, ſich an den Hausarbeiten zu beteiligen. Im Jahre 1908 wurden ſo 64 künftige Mütter koſtenlos aufgenommen, 36 bis zu 4 Wochen, 23 zwiſchen 5 und 10 Wochen und 5 zwiſchen 10 und 12 Wochen vor der Entbindung. In dem am 15. November 1908 in Weſtend eröffneten neuen großen Säug⸗ lings⸗ und Mütterheim finden gleichfalls künftige Mütter ſchon vor der Ent⸗ bindung koſten los Aufnahme. Die Stadtgemeinde hat ſich in ihm gegen einen Jahres⸗ zuſchuß von 10000 ℳ eine größere Anzahl von Freibetten für Mütter und Säuglinge geſichert. Auch in dem im Juni 1909 eröffneten Kaiſerin Auguſte Viktoria⸗ Haus zur Bekämpfung der Säuglingsſterblichkeit im Deutſchen Reiche, für das die Stadtgemeinde den größten Teil des ausgedehnten Geländes ge⸗ ſtiftet hat, finden ſowohl ledige wie verheiratete Schwangere ſchon vor der Entbindung, in der Regel auch hier koſtenlos, Aufnahme. Schließlich muß hier noch die von der Stadtgemeinde eingerichtete General⸗ vor mundſchaft genannt werden. Auch ſie ſetzt mit ihren Maßnahmen zur Wahr⸗ nehmung des Intereſſes von Mutter und Kind unter Umſtänden ſchon vor der Geburt des Kindes ein. Von jeder Aufnahme im Krankenhaus Kirchſtraße zum Zwecke der ſpäteren Entbindung erhält ſie ſofort Nachricht. Kann die Geburt ſelbſt nicht in der Häuslichkeit erfolgen, ſo ſorgen die Ent⸗ bindungsanſtalt im Krankenhaus Kirchſtraße und jetzt auch das Kaiſerin Auguſte Viktoria⸗Haus dafür, daß ſie in geeigneten Räumen und unter geeigneter Pflege vor ſich geht. In beiden finden unbemittelte Frauen und Mädchen zur Entbindung ohne Förmlichkeiten und ohne vorherige Koſtenzahlung Aufnahme. Die Armendirektion übernimmt nötigenfalls nachträglich die Koſten, ohne daß dadurch bei Verheirateten die politiſchen Rechte beeinträchtigt werden. Ein großer Neubau der ſtädtiſchen Entbindungsanſtalt wird vorausſichtlich in Kürze begonnen werden. Soweit die Entbindung in der Wohnung erfolgt, treten nunmehr der Hauspflegeverein und mit ihm zuſammen und ihn ergänzend der Eliſa⸗ beth⸗Frauenverein mit ihrer Fürſorge ein. Der erſte durch Stellung einer Pflegerin, der zweite durch Gewährung von Wochenſuppen und Überlaſſung von Wander⸗ körben mit Säuglingswäſche. Im Jahre 1908 ſind ſo in 994 Fällen bei Entbindungen Pflegen geleiſtet worden. Bei ſtädtiſchen Arbeitern und Unterbeamten trägt die Stadt einen Teil der Koſten der Hauspflege. Zahlreiche Fabriken treten auf Grund von Ab⸗ machungen mit dem Verein in gleicher Weiſe für ihre Arbeiter und Angeſtellten ein. Für das Kind ſetzt nunmehr unmittelbar nach der Geburt die General⸗ vormundſchaft ein. Ihr unterſtanden am 1. April 1909 784 Kinder, von denen ſich 317 bei der Mutter, 282 in Haltepflege und 185 in ſtädtiſcher Koſtpflege befanden. Die Generalvormundſchaft weiſt den Müttern, wenn eine Inpflegegabe des Kindes notwendig wird, geeignete geprüfte Pflegeſtellen nach, damit das Hin⸗ und Herwerfen der Kinder aus einer ungeeigneten Pflegeſtelle in die andere nach Möglichkeit vermieden wird. Fehlen die Mittel zur Zahlung des Pflegegeldes, ſo iſt ſie ermächtigt, jedes Kind ohne weiteres für Rechnung der Stadt in Pflege unterzubringen. An Alimenten und Abfindungen von den Vätern hat ſie im Jahre 1908 faſt 43 000 ℳ eingezogen. Auch auf die Zahl der erfolgten Legitimationen von Kindern iſt ihre Tätigkeit anſcheinend, wenn auch ein ſicheres Urteil ſchwierig iſt, nicht ohne Einfluß geweſen. Ihre Zahl hat in Charlottenburg 1905 131, 1906 aber ſchon 178, 1907 194 und 1908 229 betragen. Um Mutter und Kind möglichſt lange zuſammenzuhalten, ſtehen ſowohl im Mütterheim des Krankenhauſes Kirchſtraße als im Mütter und Säuglingsheim Weſtend und jetzt auch im Kaiſerin Auguſte Viktoria⸗Haus eine große Anzahl von Betten für Mütter mit Kindern zur Verfügung, — im Auguſte Viktoria⸗Haus und im Krankenhaus Kirchſtraße regelmäßig ganz koſtenlos, im Mütter⸗ und Säuglingsheim Weſtend gegen eine ganz geringe Zahlung, ſobald die Mutter außer dem Hauſe arbeiten kann und etwas verdient. Im Krankenhaus Kirchſtraße ſind im Jahre 1908 45 dort entbundene Mütter im Mütterheim verblieben — 13 bis zur Dauer einer Woche, 27 zwiſchen 2 und § Wochen und 5 zwiſchen 9 und 13 Wochen. In dem damit verbundenen Säuglingshei m verblieben weitere 12 Säuglinge ohne Mütter, während 34 Säug⸗ linge vorübergehend bis zur Unterbringung in Pflege dort Aufnahme fanden. 25