— 197 — 4. Armen⸗Krankenpflege. Tätigkeit der Stadtärzte. Die tabellariſchen Ueberſichten über die Tätigkeit der Stadtärzte geben auch für das Berichtsjahr 1910 zu beſonderen Bemerkungen Anlaß. Die in den Rechnungsjahren 1908 und 1909 hervorgetretene Steigerung der Inanſpruchnahme iſt nicht nur zum Stillſt an d gekommen, ſondern es zeigt ſich ſogar für die Mehrzahl der behandelten Erkrankungen ein kleiner Rückgan g. Der Grund für dieſe Erſcheinung iſt ein zweifacher. Erſtens ſind diejenigen Einrichtungen der Geſundheitsfürforge, welche Ueberweiſungen Erkrankter an die Stadtärzte veranlaſſen, im Berichtsjahre weder ver⸗ mehrt noch erweitert worden; zweitens und vor allem aber war der Geſundheitszuſtand der ärztlich beratenen Armenbevölkerung ein verhältnismäßig günſtiger. Zwar iſt die Ge⸗ ſamtzahl der Konſultationen in der Sprechſt unde des Arztes um ein Geringes, von 29 499 auf 30 454 geſtiegen. Die Anzahl der behandelten Fälle aber betrug 9453 gegen 9481 im Vor⸗ jahre, alſo trotz der Zunahme der Bevölkerung etwas weniger. Die geringere Schwere dieſer Erkrankungen vollends geht daraus hervor, daß die Zahl der Beſuche im Hauſe der Erkrankten von 5408 auf 5053, diejenige der Ueberweiſungen in das Krankenhaus von 764 auf 690, diejenige der Todesfälle von 153 auf 131 geſunken iſt. Auch die Zahl der Gutachten war etwas kleiner. Die Verteilung der vorgekommenen Erkrankungen auf die Geſchlechter und die einzelnen Organſyſteme war die gleiche, wie ſie regelmäßig zur Beobachtung kommt. Bei den Ertrankungen des Alters von 0—14 Jahren verteilen ſich die Erkrankungen auf die Ge⸗ ſchlechter nach dem Verhältnis, jenſeits des 14. Jahres aber überwiegt, namentlich bei den Organerkrankungen, das weibliche Geſchlecht und iſt mit nahezu 75 % an allen Erkrankun⸗ gen beteiligt. Wieder wie in den Vorjahren weiſen die Erkrankungen der Atmungsorgane die höchſten Zahlen auf, es folgen diejenigen des Darmkanals und des Blutes, dann des Hirns und Nervenſyſtems. Nach dieſen iſt am häufigſten die Lungentuberkuloſe, deren Er⸗ krankungszahl die der anderen Infektionskrankheiten weit überſteigt. Im Berichtsjahre zeigen nahezu alle Krankheitsgruppen eine Abnahme; ſie iſt bei den Organerkrankungen nicht unerheblich; am beträchtlichſten bei der Geſamtheit der Infektions⸗ krankheiten. Dieſe aber verhalten ſich im Einzelnen verſchieden. Einer außerordentlich ſtar⸗ ken Abnahme der Erkrankungen an Keuchhuſten ſteht eine mäßige Zunahme an Maſern und Scharlach und eine recht erhebliche Steigerung der Erkrankungen an Diphtherie und Anginen gegenüber. Das im Bericht des Vorjahres betonte Abſinken der Zahl der Tuberkuloſeer⸗ krankungen tritt auch in dieſem Jahre, wenn auch in etwas geringerem Grade hervor. Das Anhalten dieſes Rückganges kennzeichnet ihn als eine nicht bloß zufällige Erſcheinung. Trotzdem in der Geſamtbevölkerung eine heftige Diphtherieepidemie herrſchte, die auch in der Vermehrung der von den Stadtärzten behandelten Erkrankungen zum Aus⸗ druck kommt, betont die Mehrzahl der Berichterſtatter, daß die von ihnen beratenen Kreiſe nicht annähernd in dem Grade beteiligt waren, wie die andere Bevölkerung. Nur drei Aerzte hatten eine mäßige und ein vierter eine beträchtliche Steigerung der Erkrankungen zu ver⸗ zeichnen. Dieſe Beobachtung beſtätigt die auch ſonſt bekannte Tatſache der Unabhängigkeit der Verbreitungsweiſe der Diphtwerie von der wirtſchaftlichen Lage. Noch beſtimmter als in den Vorjahren hebt die überwiegende Mehrzahl der Beob⸗ achter als eine auffallende Erſcheinung das Abſinken der Erkrankungen unter den Säuglingen überhaupt und insbeſondere an Darmkatarrhen und vor allem an Brechdurch⸗ fällen hervor. Dieſe Erſcheinung wird für ſo charakteriſtiſch erklärt, daß ſie unter keinen Umſtänden allein auf die in dieſer Hinſicht günſtigen Witterungsverhältniſſe des Berichts⸗ jahres zurückgeführt werden dürfen. Die allgemeinen Geſundheitsverhältniſſe werden durchweg als befriedigende hinge⸗ ſtellt. In großer Uebereinſtimmung ſchildert die Mehrzahl der Berichterſtatter die Woh⸗ nungsverhältniſſe in den neuerbauten Stadtteilen als günſtige und beanſtandet höchſtens einige ältere Häuſer. Wo die Wohnweiſe infolge wirtſchaftlicher Not oder von Unwiſſen⸗ heit Grund zu Bedenken gab, ſei im allgemeinen die Bewohnerſchaft der Unterweiſung zugäng⸗ lich geweſen. Ein Beobachter betont die Notwendigkeit, neben der Wohnung auch der Kleidung Beachtung zu ſchenken, deren Unzulänglichkeit häufig das Auftreten von Er⸗ krankungen begünſtige und den Erfolg der Behandlung erſchwere. Ein anderer Beobachter begründet ausführlich als eine neben der Behandlung er⸗ forderliche und lohnende Aufgabe des Stadtarztes die Belehrung und Erziehung zu zweck⸗ mäßigerer Lebensweiſe und zur Abſtellung von geſundheitlichen Mißgriffen. Er berichtet über Erfolge ſeiner Bemühungen in dieſer Richtung. Nur wo das Familienhaupt dem Trunke ver⸗ fallen, ſeien nicht nur Belehrungen fruchtlos, ſondern der ſittliche Verfall auch der übrigen Familienangehörigen ſchwer aufzuhalten. 1 4