4. Armen⸗Krankenpflege. Die Tätigkeit der Stadtärzte. Im Gegenſatz zu dem geſundheitlich ſehr gün⸗ ſtigen Berichtsjahre 1910, in dem ein Stillſtand in der Inanſpruchnahme der Stadtärzte feſtzuſtellen war, machten ſich im Berichtsjahre 1911 eine Reihe von Einflüſſen geltend, von denen von vornherein zu ſchließen war, daß ſie übereinſtimmend eine Steigerung der Tätigkeit zur Folge haben mußten. Zuerſt beſtanden ſowohl im Winter, wie im Sommer ertreme Temperaturen; der Sommer war von ganz ungewöhnlich hoher und langanhaltender Trockenheit und Hitze, während der Winter anhaltende ungünſtige Witterung hatte. Dann herrſchten eine Reihe von Epidemien, im Winter eine Steigerung der Erkrankungen an Influ⸗ enza und Keuchhuſten, im ganzen Jahre eine geringe Vermehrung der Erkrankungen an Scharlach und ſeit dem Herbſt 1911 eine ganz außerordentliche Steigerung der Erkrankungen an Diphterie. Neben dieſen epidemiologiſchen Einflüſſen kamen noch wirtſchaftliche in Betracht. Zu der Fleiſch⸗ und Milchteuerung, die ſchon vorher beſtand, kam infolge der durch die Sommerhitze hervorgerufenen Mißernte eine ungewöhnliche Preisſteigerung für Gemüſe und Kartoffeln, welche, wie die unmittelbaren Beobachtungen der Stadtärzte hervorheben, bei ſchon Verarmten die beſtehende Blutarmut und Unterernährung ſo ſteigerte, daß ärztliche Hilfe häufiger beanſprucht wurde, anderer⸗ ſeits aber auch ſolche Familien veranlaßte, die Hilfe der Stadtärzte aufzuſuchen, die ſonſt auf die Inanſpruchnahme der Armenverwaltung verzichtet hätten. End⸗ lich aber wuchs auch die Tätigkeit der Stadtärzte im Berichtsjahre noch durch eine Maßnahme der Schulverwaltung. Dieſe hatte, um die Schulepidemien an Diphterie wirkſamer zu bekämpfen, die Wiederzulaſſung geneſener Kinder oder geſunder Bazillenträger von dem bakteriologiſchen Nachweis des Fehlens von Bazillen in den Abſonderungen des Naſenrachenraumes abhängig gemacht, und zwar mußte die Unterſuchung zweimal in Pauſen von je 6 Tagen, im Falle eines poſitiven Befundes noch öfter wiederholt werden. In allen Fällen, in denen die Entnahme der Proben nicht durch den behandelnden Arzt ſtattfand, wurde ſie dem zuſtändigen Stadtarzt übertragen; und da es ſich meiſt um geneſene oder ge⸗ ſunde Kinder handelte, traf dies für die Mehrzahl der Fälle zu. Auch durch dieſe Maß⸗ nahme mußte die Inanſpruchnahme der Stadtärzte wachſen, und man dürfte auf eine große Steigerung der Zahlen gefaßt ſein. Eine Steigerung gegenüber dem Vo rjahre iſt auch nachweisbar, aber ſie hält ſich entgegen den Vorausſetz ungen in auffallend mäßigen Grenzen. Die Zahl der Krankheitsfälle ſtieg von 9453 auf 9812, diejenige der Kon⸗ ſultationen von 30 454 auf 34 136, der Beſuche von 5053 auf 6200. Daß die Zahl der Überweiſungen in die Krankenhäuſer die erhebliche Steigerung von 690 auf 826 erfuhr und damit den höchſten Stand ſeit 1906 erreichte, beruht auf dem Herrſchen der Kinderepidemien: denn von der Zunahme von 136 Fällen gegen über 1910 kamen 25 auf das Säuglingsalter und 67 auf das Alter von 1—14 Jahren; auch die Berichte der Stadtärzte heben ausdrück⸗ lich hervor, daß ſie genötigt waren, im Intereſſe der beſſeren Abſonderung und zweck⸗ mäßigeren Behandlung eine größere Anzahl ſcharlach⸗ und diphteriekranker Kinder dem Krankenhauſe zu überweiſen. Dieſe Maßnahme liegt im Intereſſe der Erkrankten und des Schutzes der Geſamtbevölkerung. Die Abſonderung in Krankenhäuſer galt den Stadtärzten als ein radikaleres Mittel zur Seuchenbekämpfung, als die Schutzimpfung, für deren An⸗ wendung nach dem Ermeſſen der Arzte die Verwaltung unentgeltlich Serum zur Verfügung geſtellt hatte. Denn nur ein Stadtarzt berichtet über die Serumanwendung zur Immuni⸗ ſierung Geſunder und über deren Erfolge. Während die abſolute Zahl der Todesfälle von 131 auf 141 ſtieg und damit immer noch unterhalb der Sterbezahlen der Jahre 1906 und 1905 blieb, iſt die Relativzahl der Todesfälle ſogar eine Kleinigkeit geringer als im Vorjahre (13 3 %e gegen 13,8 %o). Die Betrachtung der Tabelle 11 Irt, daß die Steigerung der Erkrankungsfälle gegenüber dem Vorjahre faſt überwiegend auf die Rechnung der genannten Epidemien kommt: 5 1910 1911 Dipotertte 115 286 Keuchhuſſen 142 187 Inſtuenza.. 2 146 204 403 627 Abgenommen hat vor Allem die Tuberkuloſe der Lungen (515 gegen 603). Am bemerkenswerteſten iſt mit Rückſicht auf die abnormen Verhältniſſe des Sommers das Ver⸗ halten des Brechdurchfalls der Säuglinge, der häufigſten und gefährlichſten