1904 / 291 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 10 Dec 1904 18:00:01 GMT) scan diff

Deutschen so gut. (Große Heiterkeit rechts und in der Mitte.) Meine Herren, ob ich diesen Rat befolge, das weiß ich nicht. Ich fürchte, daß ich es auf diesem Gebiet doch nicht mit gewissen Leuten aufnehmen könnte. (Sehr gut! in der Mitte und rechts. Heiterkeit.) Es entbehrt aber doch nicht einer gewissen Pikanterie, daß der Herr Abg. von Vollmar mir meine Tonart vorwarf in demselben Augenblick, wo mir ein Artikel unterbreitet wurde, der von einer dem Herrn Abg. von Vollmar, ich will nicht sagen, besonders nahestehenden Seite, aber doch in einem Blatte der Partei veröffentlicht ist, zu der sich der Herr Abg. von Vollmar rechnet, und in dem wörtlich steht ich bitte um die Erlaubnis, diesen kurzen Artikel verlesen zu dürfen —: Die konservativen Wegelagerer

(große Heiterkeit),

die Zentrumsgauner (erneute große Heiterkeit),

die nationalliberalen Jesuiten (große Heiterkeit)

und als der oberste der Philister Eugen Richter .. .. (erneute Heiterkeit, meine Herren, der Herr Abg. Richter, von dem neulich Herr von Kardoiff mit Recht gesagt hat, daß wir ihn zu unser aller Bedauern nicht an seinem Platze sehen, von dem wir alle hoffen, daß er seinen gewohnten Platz bald wieder einnehmen möge (allseitiger Beifall)

der parlamentarische Strolch (stürmische Heiterkeit) ich bitte um Verzeihung

der parlamentarische Strolch von Kardorff sschallende Heiterkeit)

machte den Regisseur. Der Reichsgerichtsrat Spahn ich bitte nochmals um Entschuldigung

illustrierte die deutsche Klassenjustiz in Permanenz durch einen nieder⸗

trächtigen Staatsstreich, und der beschäftigungslose Advokat und

Streber Bassermann (Heiterkeit)

gab zum ersten Male in seinem Leben einen juristischen Kommentar.

Es ist heute überflüssiz, an die schamlosen Bubenstücke, an die

infame Affenbosheit dieses parlamentarischen Gesindels zu erinnern, (große Heiterkeit)

das damals wie eine Sauherde (große Heiterkeit)

in die Geschäftsordnung und Verfassung hereinbrach und nieder⸗

trampelte, was ihm im Wege war.“ (Große Heiterkeit.)

Und die Herren, die sich einer so geschmackvollen Ton— art befleißigen, die machen mir Vorhaltungen über meinen Ton! (Heiterkeit)

Der Herr Abg. von Vollmar hat weiter gemeint, ich hätte kein Verständnis für die Sozialdemokratie. Ich verfolge im Gegenteil mit Aufmerksamkeit die Vorgänge in der sozialdemokratischen Partei und mit ganz besonderer Aufmerksamkeit die Haltung, eines so ge— wiegten Politikers und Parlamentariers, wie es der Herr Abg. von Vollmar ist, und seiner näheren Freunde. Vor zwei Jahren, meine Herren, wurken ja in manchen Kieisen Erwartungen an den Revisionismus geknüpft. Wie der edle Posa in Schillers Don Carlos vor den bösen König Philipp, so trat damals der Revisionismus vor den Führer der sozialdemokratischen Partei: „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ (Große Heiterkeit.) Der dachte aber: „Sonderbarer Schwärmer!“ (Erneute große Heiterkeit Er gab keine Gedankenfreiheit, er ließ durch seinen Freund, Herrn Kautsky, erklären, in der sozialdemokratischen Partei sei sogar das Anzweifeln der gerade herrschenden Meinung gefährlich und nicht erlaubt. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Ich werde Ihnen, Herr Bebel, wenn Sie gestatten, den Artikel übersenden, ich habe ihn nicht mehr wörtlich im Gedächtnis. Jedenfalls war damals die Haltung des Herrn Abg. Bebel eine solche, daß selbst ein an— gesehenes fran zösisches sozialdemokratisches Blatt, die Hu⸗ manits oder Aurore von dem Dogmatisme intolsrant, dem unduldsamen Dogmatismus, der deutschen Sozialdemokratie sprach. Da duckte sich der Revisionismus (Heiterkeit), da überließ er die Führung den utopistischen Politikern, da wich er zurück vor denjenigen, die das mit seltenem Scharfsinn und seltener Denkkraft, mit ungewöhnlichen Kenntnissen und mit noch ungewöhnlicherer Dialektik konstruierte, aber durch die geschichtliche Entwicklung der Dinge in seinem Fundament erschütterte System von Marx für ein Dogma halten, so starr und so unanfechtbar, wie nur irgend ein asiatisches Dogma. Und als der Revisionismus sich zurückzog, sich so duckte, da schaltete er sich eben aus aus der Zahl derjenigen Faktoren, bie Realpolitik treiben. (Sehr richtig! links.) Gewiß, die Behandlung, die ihm damals zuteil wurde, konnte Mit⸗ gefühl erregen, wenn, wie Herr von Vollmar treffend sagte, die Politik nicht bis zu einem gewissen Grade das Mitleid ausschlösse. (Heiterkeit) Aber auch die Art und Weise, wie damals der Revisionismus reagierte, oder vielmehr, wie er nicht reagierte, auch die konnte ein gewisses Mitgefühl hervorrufen. Deshalb hat es keinen Wert, wenn die Herren von jener Richtung sich mit einer ich gebrauche wiederum einen Ausdruck, dessen sich Herr von Vollmar soeben be⸗ diente mit einer relativen Mäßigung aussprechen, solange sie nicht im stande sind, sich von demjenigen Herrn zu emanzipieren, den ich nicht beim Namen nennen will, den aber vor zwei Jahren mit feinem Witz der Herr Abg. von Vollmar verglich mit dem Lordprotektor Cromwell. Solange sie sich nicht auf eigene Füße stellen, so lange haben ihre relativ gemäßigteren Anschauungen auch nur einen akademischen Wert, und daß in der sozialdemokratischen Partei das Akademische nicht allzu hoch bewertet wird, das wissen wir seit dem Dresdener Parteitag. (Heiterkeit)

Nun, meine Herren, hat sich der Herr Abg. von Vollmar ein— gehend mit unserm Verhältnis zu Rußland beschäftigt. Er hat zu⸗ nächst gemeint, es sei ein Unterschied zwischen dem Auftreten einer Partei und zwischen der Haltung einer Regierung. Das, meine Herren, kann ich nicht zugeben. Die Annahme, es sei gleichgültig, wie die Parteien, die Presse, das Parlament sich zu den großen Fragen der auswärtigen Politik stellen, trifft heute nicht mehr zu. Wir gewinnen nicht an Ansehen, wenn schwierige, ver⸗ wickelte, heikle Fragen der internationalen Politik lediglich vom Parteistandpunkt aus behandelt werden. Gerade so, wie man während des südafrikanischen Krieges auf falschem Wege war, als man sich vom Gefühl leiten ließ und das vermeint⸗ liche moralische Recht oder Unrecht verwechselte mit dem nationalen

Vorteil oder Nachteil, so ist man auch heute im Irrtum, wenn man sich in der auswärtigen Politik von Gefühlswall ungen oder von Fraktions⸗ räcksichten bestimmen läßt. Ich wiederhole noch einmal: wir beob⸗ achten Rußland gegenüber die vollkommen loyale Neutralität, die unserem traditionellen Verhältnis zu dieser Macht entspricht, ohne daß wir damit den anderen Mächten, die mit uns im Allianz. oder Freundschaftsverhältnis stehen, irgend welchen Grund zu berechtigtem Mißtrauen oder zu berechtigter Beschwerde geben. Ich kann nur wünschen, daß alle Parteien, daß die öffentliche Meinung und die Presse dieselbe Linie einhalten mögen. Wir Deutsche ich will das offen aussprechen haben eine unglückliche Sucht, einen unglücklichen Hang, bei fremden Händeln Partei für den einen oder andern zu nehmen, uns mit unserem Urteil in fremde Streitigkeiten einzumischen. (Sehr richtig) Dabei kommt praktisch nicht viel heraus. Es ist ein Mangel an Erziehung, wenn bei uns weite Kreise sich hineinschreiben und hineinreden lassen in eine solche heftige Parteinahme und dabei womöglich noch denken, das schade nichts, wenn die Regierung sich nur korrekt verhalte. (Sehr richtig! links.) Je größer der Einfluß der Organe der öffentlichen Meinung, der Abgeordneten wie der Presse geworden ist auch für Fragen der aufwärtigen Politik, um so mehr müssen sie sich der Ver⸗ antwortlichkeit bewußt werden, die auf ihnen ruht, für Schwierigkeiten, die aus der Erregung von Volksleidenschaften für den Gang unsrer auswärtigen Politik erwachsen. Ich will gern anerkennen, daß unsere große Tagespresse, von der Kreuzzeitung bis zur Frankfurter Zeitung, sich gegenüber dem gegenwärtigen ostasiatischen Kriege einer anerkennenswerten Ruhe und Besonnenheit befleißigt. Da mich aber der Herr Abg. von Vollmar genötigt hat, dieses Thema noch einmal anzuschneiden, so füge ich hinzu, daß ich zu meinem Bedauern“ nicht das gleiche von unserer Witzpresse sagen kann. Gerade so,v, wie unsere Witzpresse während des südafrikanischen Krieges maßlos heftig und unverständig war, und ihr Witz oft in Schmähungen ausartete, so läßt sich auch jetzt beobachten, wie sie gegenüber dem ostasiatischen Kriege den einen der beiden Gegner wegen seiner bisherigen Unglücks⸗ fälle mit einem Hohn und Spott verfolgt, der doppelt bedauerlich ist angesichts der von diesem Gegner bewiesenen Tapferkeit. (Bravo! rechts) Die Freiheit, die ich der Witzpresse im übrigen gern gönne über mich mögen sie schreiben, was sie wollen (Heiter⸗ keit, da gebe ich ihnen Maskenfreiheit (Heiterkeit) —, diese Freiheit muß ihre Grenze finden in einem gewissen Maß von politischer Einsicht, das verbietet, beim Unglück anderer schadenfroh zu sein, das verhindert, dem Auslande durch bösartige Illustrationen Material zu Hetzereien gegen das deutsche Volk zu liefern. (Sehr wahr! rechts, in der Mitte und bei den National—⸗ liberalen Solche bösartigen Illustrationen, solche rohen Witze können das kann ich Sie versichern oft mehr Schaden anrichten als ein leidenschaftlicher Leitartikel oder selbst als Reden, wie wir sie bisweilen von der äußersten Linken gehört haben. Ich vermag auch keinen mildernden Umstand darin zu erkennen, daß solche Zeichnungen bei uns, wie ich wohl weiß, meist von blutigen Nichtpolitikern entworfen oder inspiriert werden. Was der Deutsche in der Bundestagszeit über seine Nachbarn dachte, das war diesen ziemlich egal, das hatte in der Tat auch keine große Be⸗ deutung. Heute ist das anders. Heute muß die Nation die Fenster ersetzen, die ihre Presse einschmeißt. Dieses Gefühls der Mit- verantwortlichkeit für den Gang unserer auswärtigen Politik müssen wir uns noch mehr bewußt werden. (Beifall rechts.)

Der Herr Abg. von Vollmar hat auch gemeint, die Sozialdemokratie wolle keinen Krieg mit Rußland. Ja, dann mußte der Herr Abg. von Vollmar aber damit anfangen, den Herrn Abg. Bebel zu verhindern, so gegen Rußland zu sprechen, wie er das nun schon bei wiederholten Malen getan hat. (Sehr wahr! rechts und in der Mitte.) Wie weit sein Einfluß in dieser Richtung reicht, das weiß ich freilich nicht (Heiterkeit), trotz der ritterlichen Art, mit der er eben für ihn eingetreten ist. Eins ist sicher: jemehr Sie gegen Rußland zu Felde ziehen, um so mehr muß ich mich bemühen, die Beziehungen zu Rußland in friedlichen und freundlichen Bahnen zu halten. Eins möchte ich noch hinzufügen: Angriffe, aus denen nicht die nötigen kriegerischen Konsequenzen gezogen werden, sind fremden Völkern gegenüber immer vom Uebel. Der andere wird da⸗ durch gereizt, und man selbst blamiert sich, wenn man seinen Worten keine Tat folgen läßt. (Sehr wahr!)

Meine Herren, der Herr Abg. von Vollmar ist auch noch einmal auf den Königsberger Prozeß zurückgekommen. Ich habe schon gesagt, daß ich über den Königsberger Prozeß nicht als Jurist, sondern als Politiker gesprochen habe. Ich kann nur wiederholen: alles, was der Herr Abg. von Vollmar hierüber gesagt hat, ändert nichts an der von mir konstatierten Tatsache, daß die Sozialdemokratie mit vollem Bewußtsein und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die russische Regierung arbeitet. Dadurch aber schädigt sie unser Verhältnis zu Rußland, das in friedlichen Bahnen zu halten die Aufgabe unserer Politik sein muß.

Es hat mich gefreut, daß der Herr Abg. von Vollmar soeben die nationale Note betont hat, daß er für seine Partei die Eigenschaft des Patriotismus reklamiert hat; daß er seiner Partei einen nationalen Mantel umgehängt hat. Wenn der Herr Abgeordnete von Vollmar mit Beharrlichkeit und Zähigkeit auf diesen Wege weiter fortschreitet, so kann er sich vielleicht noch zu einem deutschen Jaursè's entwickeln. (Heiterkeit) Das würde ich ihm aufrichtig wünschen. Vorläufig aber muß ich konstatieren, daß in keinem Lande der Welt die Sozialdemokratie gegenüber Rußland eine so feindliche, lärmende, und ich muß hinzufügen, ungeschickte Propaganda treibt, wie das bei uns der Fall ist.

Der Herr Abgeordnete von Vollmar hat auch dunkele An deutungen gemacht, oder vielmehr er hat sich auf Andeutungen des Herrn Abgeordneten Bebel bezogen, die mir darauf hinauszukommen schienen, als ob wir Rußland gegenüber darch irgend einen als Pudendum zu behandelnden Vertrag gebunden wären. In dem offiziellen Organ der sozialdemokratischen Partei habe ich dieselbe Behauptung gelesen. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten möchte ich diese wenigen Zeilen vorlesen. Da heißt es:

Das Verhalten des Reichskanzlers Grafen Bülow im Reichstag gegenüber den karzen Andeutungen, die Genosse Bebel über den Königsberger Prozeß gemacht hat, beweist zur Genüge, daß die gegenwärtige Regierung im Russendienst völlig verstockt und un⸗ rettbar verstrickt ist. Der langjährige frühere englische Botschafter in Berlin, White, hat neulich in einer englischen Zeitschrift be⸗ hauptet, daß er ganz sicher wisse, es sei ein geheimer Vertrag zwischen

Rußland und Deutschland abgeschlossen worden. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß ein solcher Vertrag in der Tat existiert, und daß er einen so skandalösen, auch die inneren Verhältnisse der beiden Länder berührenden Inhalt hat, daß Deutschland durch diesen Vertrag an Rußland sklavisch gebunden ist. Man hat fast den Eindruck, als ob die erstaunliche, bis zur Würdelosigkeit gesteigerte Willfährigkeit gegen⸗ über Rußland daraus zu erklären ist, daß man vor unangenehmen Ent⸗ hüllungen Rußlands sich fürchtet. Man hat, so scheint es, mit dem Geheimvertrag Rußland eine Waffe gegen Deutschland selbst in die Hand gegeben

Meine Herren, ich bin kein unbescheidener Mensch, aber halten Sie

mich wirklich für einen so kolossalen Ochsen? (Große, allgemeine

Heiterkeit) Rußland eine Waffe gegen Deutschland selbst in die Hand gegeben, die uns nicht nur zu den schändlichen Russendiensten vempflichtet, sondern auch der Regierung die Möglichkeit nimmt, sich von dem Joch zu lösen. Vielleicht gewinnen die Freisinnigen wenigstens die Energie, bei dieser Gelegenheit nach dem geheimen Vertrag, der zwischen Preußen und Rußland abgeschlossen ist, sich zu erkundigen.“

Meine Herren, was die Herren von der Freisinnigen Partei tun werden, das weiß ich nicht. Ich selber möchte aber das Nachstehende sagen. Was die Behauptung angeht, nämlich, daß eine solche Mitteilung aus—⸗ gegangen wäre „von dem langjährigen früheren englischen Botschafter in Berlin, White“, so hat es allerdings einmal einen englischen Bot⸗ schafter gegeben, der White hieß; der war aber nicht Botschafter in Berlin, sondern in Konstantinopel. (Heiterkeit. Dann hat es auch einmal einen Botschafter in Berlin gegeben, der White hieß. Der war aber nicht englischer Botschafter, sondern amerikanischer. (Heiterkeit) Auf der Höhe dieser Sachkenntnis, die mich wirklich schon an Pichelswerder (Heiterkeit) erinnert, steht auch der übrige Inhalt dieses Artikels oder ähnlicher ich will nicht sagen Insinuationen, aber ähnlicher Andeutungen. Für die große Mehrheit dieses hohen Hauses brauche ich wohl nicht zu sagen, daß ein solcher Vertrag nicht existiert.

Meine Herren, und endlich hat der Herr Abgeordnete von Vollmar auch gemeint, die auswärtige Lage sei so friedlich, daß er nicht einsehe, weshalb wir unsere Wehrkraft zu verstärken brauchten. Wir haben keinen Grund, an der Aufrichtig⸗ keit der Friedensversicherungen zu zweifeln, die die Regierungen der Großmächte wiederholt abgegeben haben. Die Regierungen, Fürsten und Staatslenker sind, wie ich glaube, alle von dem aufrichtigen Wunsche erfüllt, den Frieden aufrecht zu erhalten. Ich kann auch hinzufügen, daß die zwischen den Mächten bestehenden Allianzen sich mehr und mehr als Instrumente des Friedens bewährt haben. Wie sehr das von dem Dreibund gilt, habe ich hier mehr als einmal dargelegt. Aber auch die französisch⸗russische Allianz hat sich als friedenerhaltend bewährt, indem sie auf weniger friedliche Elemente in Frankreich einen moderierenden Einfluß ausgeübt hat. Wir hoffen, daß auch die französisch⸗englische Annäherung friedenerhaltend wirken wird. Für Deutschland dürfen wir das Verdienst in Anspruch nehmen, daß es, dank der weisen Politik unseres alten Kaisers und seines großen Kanzlers, den Grund zu einer langen Friedensepoche gelegt hat. Ich würde aber meinen Pflichten als Auswärtiger Minister nicht genügen, wenn ich die Augen dagegen verschließen wollte, daß es in Europa auch Unterströmungen gibt, die zu kriegerischen Verwicklungen drängen. Wenn Sie an die Revanchegelüste in Frankreich denken wir haben den innigen Wunsch, daß dieselben sich mehr und mehr verflüchtigen mögen; aber so optimistisch, wie der Herr Abg. von Vollmar, vermag ich die Stimmung jenseits der Vogesen nicht anzusehen —, wenn Sie denken an die kürzlich von mir berührten Hetzereien gewisser englischer Zeitschriften und Journale und an manche analoge Erscheinungen deutschfeindlicher Treibereien in Europa, so werden Sie mir zugeben, daß es in der Welt weder an Zündstoff fehlt noch an Leuten, die Lust hätten, den Zünd— stoff zur Flamme zu entfachen. Eins ist sicher, meine Herren: wenn Deutschland seit einem Menschenalter der Mittelpunkt der Friedenstendenzen und ein Bollwerk des Friedens gewesen ist, so konnte es dies nur sein dank seiner Stärke! (Sehr wahr rechts und bei den Nationalliberalen Ein schwaches Deutschland würde sofort kriegerische Begebrlichkeit, kriegerische Neigungen groß werden lassen. Ein schwaches Deutschland und damit will ich schließen würde nicht nur für uns eine Gefahr sein, sondern auch für den europäischen und den Weltfrieden, den wir alle aufrecht zu erhalten wünschen! (Lebhafter Beifall.)

Abg. Dr. Spahn Gentr ) ist bei der im Hause nach der Rede des Reichskanzlers auftretenden allgemeinen Unruhe sehr schwer ver— ständlich. Er polemisiert gegen den Abg. von Vollmar und stellt zu⸗ nächst fest, daß die zitierte Aeußerung des Zentrumsabgeordneten über die Witwen- und Waisenversicherung durchaus entstellt sei. Auch die übrigen Vorwürfe des Abg. von Vollmar gegen das Zentrum seien unberechtigt Der Königsberger Prozeß sei allerdings kein Ruhmesblatt in der Geschichte der preußischen Justiz. Die heutigen Ausführungen des Schatzsekretärs gegen die Matrikularbeiträge könnten nicht ohne Widerspruch bleiben. Man könnte sich darauf verständigen, die Aus⸗ gaben, die durch die erhöhten Militärforderungen entstehen, auf die Zuschußanleihe zu übernehmen; eine solche Lösung müßte ja im Sinne des Schatzsekretärs liegen. Seine Aeußerung über die Ueber⸗ zahl der Beamten im Reichsamt des Innern sei von Herrn Bebel mißverstanden worden. Der Zolltarif brauche nach seiner Anschauung keine weitere Verteuerung der Lebensmittel zu erjeugen; aber des wegen sei nicht ausgeschlossen, daß die Ernährung der arbeitenden Klassen gegenüber dem Auslande dadurch relativ teurer werde, daß die Preise im Auslande nech mehr sinken. Die Denkschrift über die Kolonien enthalte zwar sehr viel interessantes Material, aber völlige Aufklärung bringe sie nicht; man werde sich in der Kommission weiter darüber zu unterhalten haben. In dem Bericht seien zwei wichtige Schriftstücke der Theinischen Mission mitgeteilt, die man dem Reichstage schon 1903 hätte zugänglich machen müssen. In einem dieser Schriftstücke sei bereits der Vorschlag gemacht, die Eingeborenen in Reservate überzuführen. Dieser sehr . Gedanke sollte so schleunig wie möglich verwirklicht werden. Ueher die Frage der Errichtung eines eigenen Kolonialamts werde man sich auch die definitive Stellungnahme vorbehalten müssen. Zu der Ent⸗ schädigungsfrage an sich 6 sich der Reichstag in früheren Jahren keines weg unfreundlich verhalten; auch die weiteren Kreditforderungen würden wohlwollend geprüft werden. Wenn der Kanzler nur die 1200 Millionen jährlicher Etatsausgaben für unsere Rüstung angebe und diese Zahl, den 3 Milliarden gegenüberstelle, welche jährlich in r wan, für Getränke ausgegeben werden, so sei diese Gegen« überstellung nicht ganz genau, denn mit den 1200 Millionen werde keineswegs erschöpft, was das deuische Volk für sein Heer ausgebe. Wenn der Kanzler ferner meine, es sei kein neues Material in der Diäten frage beigebracht worden, so werde damit die Frage selbst nicht aus der Welt geschafft. Nicht auf neue Gründe, sondern auf Erfüllung dieser Forderung komme es an. Die Revisionisten seien nicht der Parteileitung, sondern dem Reichskanzler , , an

ekommen seien mit der Forderung der Gedankenfreiheit;

. st abgelehnt. Die Parteizentrale habe erklärt, wenn ein ge⸗ wiffer rebision stischer Kandidat gewählt würde, so erhalte er keine zrteidiäten, und darauf, hahe der Betreffende zurücktreten müssen.

Herade die Bepölkerung der Staaten snseits der Mainlinie, müßte endlich in die Lage versetzt werden, im Reichstage dauernd besser ver⸗ treten zu fein als es jetzt der Fall sei. Nicht die . selen die Träger des deutschen Einheitsgedankens, sondern der Reichstag sei es. Han sollte jedes Mitel anwenden, um zu erreichen, daß die Zu⸗ fammenfetzung des Hauses eine gleichmäßigere werde aus allen Gauen, Was heute anders geworden, sei, daß die Sozialdemokraten in viel größerer Zahl anwesend seien und Parteidiäten zahlten; dadurch sei ker Absentismus zu einer Gefahr für den Reichstag geworden, und daz fei eine neue Tatsache auch nur für den, der sie nicht immer hier bor Augen habe. Das sollte sich auch der Reichskanzler zu Gemüt fibre, Stoecker (wirtsch. Vgg. ; Wenn heute schon so riel darüber gejammert wird, daß wir in die Weltpolitik eingetreten sind, so bärfen wir doch nicht vergessen, daß es unklug wäre und em deutschen Charakter nicht entspräche, wenn wir etwas, was uns nicht gleich gelingt, wieder aufgeben. Wir dürfen auch nicht die günstig. Rückwirkung auf unsere Industrie vergessen und auf die Entwickelung des deutschen Gewerbefleißes. Die Soialdemokraten weifen zwar darauf hin, daß sie diese Politik von vornherein abge— lebnt hätten, aber was lehnen diese nicht ab! Sie lehnen selbst daz ganze Reichtbudget ab und können alsog nicht verlangen, baß wir auf ihre Ablehnung auch nur einen Pfifferling geben. Die Aufregung über die Stellungnahme der Herren ist ganz umsonst, wenn man bedenkt, welche Stellung die äußerste Linke uberhaupt dem Vaterland gegenüber einnimmt. Unter den Mitteln zur Hebung der Reichefinanzen scheint mir eine Reichseinkommensteuer weniger passend, weil dadurch die Staatseinkommensteuer in manchen Ländern gehindert wird. Viel eher würde ich eine Reichserbschaftssteuer empfehlen, die unter allen Umständen viel beguemer, viel angenehmer und schmerz⸗ loser ist. Es ist eine gerechte Forderung, wenn jemand, der unter dein Schutz des Staates reich geworden ist, am Ende seines Lebens ein gut Teil des Erworbenen an, den Staat wieder abgibt. Daß wir fo viel unserer wehrhaften Männer authilden müssen, als irgend möglich ist. das ist eine natürliche Felge unseres vortrefflichen Wehr⸗ fystems. Ich möchte den Minister dringend hitten, Veranstaltung zu treffen, daß nicht an gewissen Punkten unsereg Heeres die Vermehrung übertrieben wird. Eine Verstärkung und Besserung unseres Unteroffizierkorps ist durchaus zu billigen. Ver russisch · japa· nische Krieg erheischt immerhin große Beachtung. Wir dürfen nicht annehmen, daß wir mit unserem Heere nicht auf der Hut sein müssen. Was Rußland anbetrifft, so dürfen wir nicht vergessen, daß es unsere deutsche Einigungspolitik nicht nur zugelassen, sondern dazu mitgeholfen hat. Einem solchen Lande sollte man nicht in schweren Zeiten Spott und Hohn zu teil werden lassen. Man spreche nicht von den inneren, Zuständen Rußlands, hier handelt es sich nur um sein Perhältnis zu uns. Es ist zu hoffen, daß die gegenwärtigen schweren Schicksalsschläge für Rußland das bewirken werden, was Jeng für Preußen bewirkt hat, eine Erneuerung des Volkslebens, die in Rußland ohne Zweifel not-; wendig ist. In der Kolonialpolitik sehen viele eine große Torheit, ich ehöre nicht zu diesen. Alle Länder Europas, fast alle Großmächte

reiben Weltpolitik und Kolonialpolitik, und sollten wir alle Hoffnungen und Autsichten der letzten 20 Jahre nun begraben? Der Aufstand in Südwestafrika bereitet uns große Schmerzen und hohe Kosten. Es ist dankenswert, daß uns die Dentschrift Auf⸗ flärung gibt, wo Fehler gemacht sind, ich kann aber nicht der Auf⸗ fassung zustimmen, daß der Krieg sowieso e men wäre. Wenn man zur rechten Zeit Reservationen geschaffen hätte, daß die Herero für ihre Zukunft nicht hätten bange zu sein brauchen, dann wäre der Aufstand vermieden worden. Kenner des Landes sagen, daß eine große Gesamtbewegung der schwarzen Rasse gegen die weiße im Anzuge ist. Wir können nur wünschen, daß die Katschläge der rheinischen Mission befolgt werden, ehe es ju spät ist. Es bleibt zu bedenken, daß wir im Grunde doch die Schutzherren sind, das möchte ich denjenigen gegenüber besonders an= führen, die meinen, man könnte tabula rasa machen und den Ein= eborenen alles nehmen. Die Frage ist für mich jetzt, wie soll man

. Hererobanden, die durch das Land streifen, zur Niederlegung der Waffen bringen, daß sie einsehen, ihr Widerstand ist gebrochen, daß sie endlich Frieden machen. Eine exemplarische Bestrafung ist am Platze, dann aber soll man den Leuten wieder Freundlichkeiten er⸗ weisen, damit sie wieder Lust behalten, deutsche Untertanen zu sein und sich als Farmer wieder anzusiedeln. Redner polemisiert dann gegen die Sozialdemokratie, von der man sagen könne: Sozial⸗ demokratie schlagt sich, Sozialdemokratie verträgt sich. Der Parteitag in Bremen habe die Dresdener Verhandlungen nicht gut gemacht. Die Sozialdemokratie trage die Schuld, wenn man den Zolltarif nicht mit der wünschenswerten Sorgfalt habe durcharbeiten können. Jetzt beginne noch die Sozialdemoktratie die Jugend bis ins innerste . zu vergiften und ihr Religion, Sitte und Gemüt za rauben. ie Bekämpfung der Sozialdemokratie sei eine der wichtigsten Auf

gar in ganz Beutschland, denn es handle sich hier um Sein oder 8

dichtsein des deutschen Volkes und Vaterlandes. Die einzize Mög⸗ lichkeit, wie man hoffen könne, der sozialdemokratischen Volks⸗ verderbnis wirksam entgegenzutreten, sei die, daß man die Arbeiter, die mit den andern bürgerlichen Kreisen in Frieden leben wollen, unterstütze, und wenn sie berechtigte Forderungen aufstellen, ihnen helfe. Es müßte, sährt Redner fort, viel mehr geschehen, um die christlich⸗nͤgtionale Arbeiterbewegung zu „fördern, wie sie im Frankfurter Kongreß Wiederhall gefunden hat: Ausbau des Koalitionsrechts, Freiheit der Berufevereine usw. ist das Mindestmaß, was wir zu fordern haben, ferner Arbeitskammern, nicht Arbeiterkammern, nämlich Kammern, be⸗ stehend aus Arbeitgebern und Arbeitern. Das sind Gedanken, wie sie chon in der alten Kaiserlichen Botschaft zum Ausdruck gekommen nd. Wir wünschen Korporationen, die von chiistlichem Geist erfüllt nd. Gewinnen wir diese christliche Grundlage für unser Volk nicht wieder, so gehen wir den größten Gefahren entgegen. Der Abg. Spahn sprach von Gleichberechtigung. Die Bern e n ist doch, daß auch die katholische Kirche Toleranz übe. Der Papst will die Welt wieder zum Christentum führen. Das ist ein großer Gedanke, dann muß aber die katholische Kirche anerkennen, daß der Protestantismus eine berechtigte Art des Christentums ist. Geschieht das nicht, so kommen wir jenem Ziel nicht näher. Die Unterstützung der christlich,sozialen Arbeiter ist durchaus notwendig. Fünfzehn Ab⸗ 6 dieser christlichänationalen Partei müssen mindestens im

eichttage vorhanden sein. Wir werden den Kampf gegen die Sozial⸗ demokratie mit aller Entschiedenheit fortführen.

Abg. von Gerlach (fr. Vog.): Wenn es dem Reichsschatz. sekretär gelänge, eine Reichspermögenssteuer einzuführen, so würde er den Namen eines Reichs. Miquel verdienen. Die Kölnische Volks⸗ 636 hat ebenfalls einen solchen Vorschlag gemacht. Die . Deutsche

agesjeitung' hat dem zugestimmt, aber gemeint, nur das mobile Napital müsse herangezogen werden, nicht die deutsche Landpirtschaft. Dies Verlangen würde dazu führen, daß die Steuer erheblich weniger einbrächte, und dann würden die vielen Liebes gaben, die der Landwirt art zufallen, sich der Besteuerung entziehen. Der Staatesekretär at sich ziemlich skeptisch geäußert über die Erträge aus den neuen ollen. Ueber die Handelsberträge können wir uns ja jetzt leider nicht unterhalten. Zur Steuer der Wahrheit muß ich aber dem Abg. Stoecker sagen, daß es die Wahrheit auf den Kopf stellen heißt, wenn er sagte, die gründliche Beratung des Zelltarifs sei an dem Widerstande der Sozialdemokratie gescheitert. Meine Partei und die Sozialdemokratie haben beim Zolltarif zusammengestanden, um seine gründliche Beratung zu ermöglichen. Auch ich glaube nicht an einen embarras de richesse; darum möchte ich die Einführung einer Reichserbschaftssteuer empfehlen. Was die Agitation gegen neue Heereg. und Flottenforderungen so sehr erleichtert, ist der Umstand, daß die Ausgabe für jene Zwecke aufgebaut ist auf. indirekten Steuern. Die Militärverwaltung ist ja sogar mit verhältnismäßig mäßigen

orderungen an uns herangetreten. Sie hätte aber allen Anlaß, unserer Anregung über die Kostendeckung näher zu treten. Was den

ilitäretat im einzelnen betrifft, so muß ich sagen, daß Das he⸗ . Dessauer Kriegsgerichtsurteil in allen Schichten der Bevölke⸗ rung die allergrößte Verstimmung und Verurteilung hervorgerufen hat? Worum handelle es fich denn? Um einen Tanzbodenstreit; und dafür 5 Jahre Zuchthaus! Wir müssen eine Herabsetzung der Strafen für solche Fälle fordern und verhindern, daß so barbarische Üngerechtigkeiten aufrecht erhalten bleiben, und daß Vorgesetzte und Untergebene mit so schreiendem Unrecht unglesch behandelt werden. Bie beiden Dessauer Soldaten haben so gehandelt, wie sie als anständige Menschen handeln mußten. Unsere Len e Lage ist nicht fo, daß man ganz leichten Herzens darüber sprechen kann. Gewiß wird pon allen Staaten die Friedensliebe hetont. Das war aber immer fo und bat nicht gehindert, daß acht Tage nach einer solchen Versicherung ein Krieg ausbrach. Deutschland hat freundliche Ge—⸗ fühle gegen die anderen Staaten, aber diese Staaten haben nicht dieselben Gefühle gegen ung. In den offiziellen Telegrammen treten ganz erhebliche Verschiedenheiten hervor. Man mnüßte alles vermeiden, waß geeignet ist, daz Mißtrauen gegen unsere Militärjustiz zu stärken. Der Reichskanzler sprach von wohlwollender Neutralität gegen Ruß⸗ sand. Mir scheint, daß die Regierurg das Wohlwollen gegen Rußland stark unterftrich. Mir scheint Deutschland in seinen Liebesdiensten gegen Rußland zu weit gegangen zu sein. In der Verurteilung des Königs berger Prozesses steht die Sozialdemokrgtie nicht allein da. Die ganze Welt hat über die er, üer, Justiz Hohn gelacht, aber die eigentliche Schmach war, daß Überhaupt ein folcher Prozeß unternommen werden konnte. Redner erinnert ferner an die Verhaftung der russischen Studentin Baerfon. Auf das Drängen, die Gründe für das Vorgehen gegen diese Studentin anzugeben, habe die Polizei gesagt, jene babe am 18. März die Gräber der Märzgefallenen besucht. Unsere Politik dem Ausland gegenüber, fährt er dann fort, können wir nicht nach dem Gefühl der Dankbarkeit einrichten, fondern nur nach den Interessen des Augenblicks. Ich verlange ja nicht, daß wir mit Rußland gleich Händel suchen. Die Gefühle Beutschlands für Japan erklären sich aus der Sympathie mit Japans Kulturhöhe. In der . darf man den Rassenstand⸗ punkt nicht in den Vordergrund ziehen. In den maßgebenden Kreisen herrscht über die Witzpresse eine zu große Nervosität; die Witzblãätter, von denen der Reichskanzler sprach, kommen ja gar nicht nach Ruß⸗ land. Der Reichskanzler follte die Witzblätter schreihen lassen, was sie wollen, sonst macht er nur Reklame für sie. Wir haben einen ganz anderen Kampf zu führen, als den gegen die gelbe Gefahr, nämlich den gegen die reaktionäre Gefahr. Darauf wird um 5s Uhr die weitere Beratung auf Sonnabend 1 Uhr vertagt.

Preußischer Landtag.

Haus der Abgeordneten. 114. Sitzung vom 9. Dezember 1904, 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Auf der Tagesordnung steht die Beratung des vom Herren⸗ hause in 2 Fassung zurückgelangten Gesetzentwurfs, betreffend die Kosten der Prüfung überwachungs⸗ bedürftiger Anlagen. Das Herrenhaus hat die Abgeordneten⸗ hausfassung dahin geändert, daß in ö 1 unter die überwachungs⸗ bedürftigen Anlagen auch die elektrischen Anlagen eingereiht worden sind und der S2 dafür gestrichen ist, der in besonderen Bestimmungen die elektrischen Anlagen der Prisnng nach 5 1 unterwarf und den Begriff der elektrischen Anlagen näher spezifizierte.

Minister für Handel und Gewerbe Möller:

Meine Herren! Der Heir Vorredner hat auf die Regierung einen gewissen Vorwurf geworfen, daß sie im Herrenhause die Absicht ditses Hauses nicht in der nötigen Weise befürwortet habe. Meine Herren, ich glaube versichern zu können, daß meine Kommissare in der Kommission sich gegen die Auffassung des Herrn Geheimen Rats Slaby gewendet und auch erzielt haben, daß sich die große Mehrheit der Kommission des Herrenhauses gegen die Anträge des Herrn Professors Slaby ausgesprochen hat. Ich selbst habe im Plenum dringend gebeten, bei den Beschlüssen dieses Hauses zu bleiben. Ich habe allerdings ausgesprochen, wie das durchaus den Tatsachen entsprach, daß die Revision des Herrenhauses ja im Grunde eine Wiederherstellung der Regierung vorlage sei. Ich habe aber an⸗ erkannt und tue das hier auch, daß ich gegenüber dem Mißtrauen, das in den Kreisen der Industrie entstanden war, es für gerechtfertigt ge⸗ halten habe, daß hier in diesem Hause der Versuch gemacht ist, die Vollmachten der Regierung einzuschränken in bezug auf die Anlagen, auf die das Gesetz Anwendung finden kann. Ich habe allerdings im Herrenhause ausgeführt und ich glaube: die Berechtigung dazu werden mir die Herren theoretisch zugestehen müssen —, daß jede kasuistische Fassung, namentlich auf einem Gebiete wie dem der Elektrizität, auf dem jedes Jahr neues bringt, auch ihre Nachteile habe, und daß man daher besser mit der ursprünglichen Regierungs⸗ vorlage hätte auskommen können. Ich kann das hier nur wiederholen.

Im übrigen aber ist durch die Verhandlungen des Herrenhauses zum Ausdruck gebracht, daß auch das Herrenhaus bei der Ausführung des Gesetzes die Mitwirkung von Männern der Praxis und der Wissenschaft wünscht. In dieser Hinsicht erfährt die Fassung der Gesetzesvorlage durch den Antrag des Herrn Freiherrn von Zedlitz meiner Auffassung nach eine erhebliche Verbesserung. Ich kann daher nur bitten, diese Verbesserung hier anzunehmen. Was der Herr Frei⸗ herr von Zedlitz über die Schwierigkeiten ausgeführt hat, die, wenn der Antrag des Herrn Voltz unter Nr. Il angenommen werden sollte, demnächst beim Erlaß der einzelnen Verordnungen entstehen würden, kann ich nur unterschreiben. Dadurch, daß Sie die Fassung des Herrn von Zedlitz annehmen, vereinfachen Sie die Sache nach Auffassung der Regierung ganz ungemein.

Um nicht unnötige Arbeit von neuem wieder stattfinden zu lassen, kann ich jetzt nur bitten, daß Sie nunmehr die Güte haben, doch die Fassung des Herrenhauses mit dem Antrage des Freiherrn von Zedlitz anzunehmen und damit die Sache endlich zu Ende zu bringen. Ich versichere Ihnen nochmals: ich werde alles mögliche tun, um namentlich in bezug auf die technischen Anforderungen eine Einheitlichkeit im ganzen Reiche herbeizuführen. Wenn Sie die Garantie haben und die wird Ihnen durch den Antrag des Freiherrn von Zedlitz gegeben —, daß in jedem Falle die Sachverständigen der Wissenschaft und der Praxis gehört werden, so dürfen Sie versichert sein, daß nicht Dinge in die Poltzeiverordnungen hineinkommen, die zu einer unnützen Belastung der Industrie führen werden. Wir haben den dringenden Wunsch, geordnete Zustände herbeizuführen und vor allen Dingen zu verhindern, daß sich nicht in weitem Maße wilde private Prüfungsanstalten bilden, deren Beseitigung uns demnächst große Schwierigkeiten und

möglicherweise auch Kosten bereiten würde. Das Bedürfnis nach regelmäßiger Prüfung der im Gesetzentwurfe genannten Anlagen ist,

glaube ich, jetzt ziemlich allseitig anerkannt, und daher bitte ich dringend, daß die Herren dazu beitragen, nunmehr durch eine beschleunigte Be⸗ schlußfassung ein Ende in dieser Sache herbeizuführen.

Abg. Vorster (fr. kons ): Wir haben uns von vornherein be⸗ müht, die engste Fühlung mit den Sachverständigen zu finden, und wir haben daraufhin unsern Kommissionsbeschluß aufgebaut. Unter diesen Umständen hat urs die Rede des Geheimen Regierungsrats Slaby anz besonders überrascht. Wir haben ja heute insofern eine ufklärung erhalten, als sich herausgestellt hat, daß er einen sehr isolierten Standpunkt einnimmt. Die uns heute zugegangenen Eingaben beweisen, daß die gesamte deutsche Industrie auf einem anderen Standpunkt steht wie Herr Slaby. Seine Haltung erklärt sich aus dem alten Gegensatz von Praxis und Theorie. weifellos hat die Autorität des Herrn Slaby den Beschluß des derrenhauses beeinflußt, und mit Recht wurde im Herrenhause von einem glänzenden Plaidoyer gegen die Fassung des Abgeordnetenhauses gesprochen. Der Redner wendet sich darauf gegen die Ausführungen des Abg. Kreitling und befürwortet eindringlich den 52 der Abgeordneten⸗ hausheschlüsse. ; . . . Abg. Münsterberg (fr. Vgg.) spricht sich für Zurückverweisung und eventuell für die Annahme des Antrages von Zedlitz aus.

Abg. Ma cco (nl): Das Gesetz in der Fassung des Herrenbauses greift nicht bloß in die Elektrotechnik, sondern in alle Gebiete der menschlichen Tätigkeit, auch in die Landwirtschaft ein, indem es die Polizeiaufsicht omnipotent macht. Wie will man ein solches Gesetz zur Durchführung bringen? Das Plaideyer des Professors Slaby hat eine Zufallsmehrheit fr die Umstoßung unserer Beschlüsse zustande gebracht. Die Vorlage muß an die Kommission zurückverwiesen werden; der Antrag von Zedlitz bietet keine genügende Abhilfe. Geheimer Oberregierungsrat Frick führt aus, daß die Vertreter der Regierung in der Kommission des Herrenhauses für die Fassung des Abgeordnetenhauses eingetreten seien, und daß die Kommission auch mit Zweidrittel oder Dreiviertel mehrheit so beschlossen habe; erst im Plenum sei eine veränderte Stellungnahme eingetreten. Mit dem Gesetz werde sich auch arbeiten lassen, wenn 5 3 (Befreiung der Mitglieder von Ueberwachungever inen von den amtlichen Prüfungen) gestrichen wird. Es empfehle sich dagegen die Annahme des Antrags des Abg. Voltz Nr. 3 mit der vom Abg. von Zedlitz beantragten Modifikation.

Abg. von Klitzing (kons.) schließt sich diesen Ausführungen namens seiner Freunde an. Die Herrenhausfassung enthalte eine Ver besserung, da sie alle elektrischen Anlagen umfasse, während unter 2 in der AÄbgeordnetenhausfassung gerade Anlagen nicht fallen können, die sehr gefährlich seien. Die Ueberwachung der elektrischen An— lagen durch einen Ueberwachungsverein habe ebenso wenig Schwierig⸗ keiten verursacht, wie die Dampfkesselrevisionen durch die Dampfkessel überwachungsvereine. Es empfehle sich die Annahme der Herrenhaus fassung, eventuell mit dem Antrage von Zedlitz.

Damit schließt die Diskussion. Das Haus beschließt nach dem Antrage Voltz, die Vorlage nochmals an die Kom⸗ mission zu überweisen.

Es folgt die erste Beratung des Gesetzentwurfs, betreffend die Errichkung eines Amtsgerichts in Langendreer.

Abg. Westermann (nl) spricht seine Freude über die Vorlage aus, hätte aber gewünscht, daß von vornherein festgestellt werde, in wessen Eigentum das Gebäude stehen solle, in dem das Amts- gericht Lrrichtet werden würde. Nach dem Vertrage zwischen Regierung und Gemeinde solle die letztere das Gebäude selbst errichten. Der Amtsgerichtsbezirk Bochum umfasse 231 000 Einwohner, eine Teilung sei also notwendig. Indessen beständen dieselben Bedürfnisse wie für Langendreer auch noch für andere Orte in den Bezirken Bochum und Dortmund.

Justizminister Dr. Schönstedt:

Nach den Eingangsworten des Herrn Abg. Westermann darf ich wohl annehmen, daß die Vorlage, um die es sich gegenwärtig handelt, einem Widerspruch innerhalb des Hauses nicht begegnen wird. Ich darf das umsomehr, als sich schon vor mehreren Jahren aus Anlaß einer Petititon der Gemeinde Langendreer ein lebhaftes Interesse für die Errichtung des Amtsgerichts, das jetzt ins Leben gerufen werden soll, hier in diesem Hause gezeigt hat.

Der Abg. Westermann hat aber Bestimmungen getadelt oder wenigstens zum Gegenstande seiner Kritik gemacht, die in der Be— gründung des Entwurfs erwähnt worden sind, wonach die Gemeinde Langendreer nicht nur den Bauplatz für das Amtsgericht hergeben soll, sondern es auch übernommen hat, die Gebäude selbst auf ihre eigenen Kosten herzurichten, um sie dem Staate auf die Dauer von 30 Jahren gegen eine Verzinsung des Baukapitals von 40/ und teil⸗ weise Uebernahme der Unterhaltungekosten zur Verfügung zu stellen. Diese Bestimmungen sind hervorgegangen aus den von der Gemeinde Langendreer selbst gemachten Vorschlägen. Die Gemeinde hat sich schon im Beginn der Ver— handlungen bereit erklärt, diese Leistungen zu übernehmen, und ich glaube nicht, daß gesagt werden kann, daß sie dadurch in zu hohem Maße belastet werde. Eine Verzinsung des Baukapitals mit 400 wird voraussichtlich ausreichen, um nicht nur das etwa von der Ge— meinde aufzunehmende Kapital zu verzinsen, sondern auch die Unter haltskosten zu decken. Die Befürchtung, daß durch ein solches Verhältnis, insbesondere durch die Teilung der Unterhaltspflicht zwischen dem Staat und der Gemeinde besondere Unzuträglichkeiten erwachsen würden, kann ich nach den gemachten Erfahrungen nicht teilen. Wir haben mit zahlreichen Gemeinden derartige Verträge, und bisher ist mir wenigstens nicht bekannt geworden, daß das zu erheblichen Differenzen in der Ausführung geführt hat. Daß aber der Bau für ein neu zu errichtendes Amtsgerichts gebäude von der Gemeinde über nommen und nicht dem Staate überlassen wird, liegt insoweit im Interesse der Gemeinde selbst, als sich dadurch eine viel raschere Aus- führung der Sache ermöglichen läßt. Wenn der Staat ein neues Amtsgerichtsgebäude und Gefängnis errichten sollte, dann würden, wie die Herren aus Erfahrung wissen, Vorbereitungen erforderlich sein, die immer den Zeitraum von ein paar Jahren einnehmen. Bis die sämtlichen Instanzen durchlaufen sind, und ehe man mit einem solchen Bauprojekt an den Landtag herantreten kann, vergeht lange Zeit; es sind da zeit⸗ raubende Schwierigkeiten zu überwinden, die vermieden oder auf ein Mindestmaß zurückgeführt werden, wenn die Ausführung des Baues von der Gemeinde in die Hand genommen wird. Die Gemeinde wird dadurch erreichen, daß voraussichtlich 2 bis 3 Jahre früher das Amts- gericht ins Leben treten kann, als es sonst der Fall sein würde.

Nun hat Herr Abg. Westermann wieder den Gedanken angeregt, auf dem beschrittenen Wege fortzufahren und zu einer weiter gehenden Dezentralisation der großen Amtsgerichtsbezirke in der Industrie⸗ gegend, spezielQl in den Landgerichtsbezirken Bochum und Dortmund überzugehen. Ich glaube nicht, daß ich nötig habe, heute auf diesen Gedanken weiter einzugehen. Anträge nach der Richtung liegen massenhaft vor; ich glaube, daß mindestens 20 Orte in der Gegend den Anspruch erheben, Sitz eines Amtsgerichts zu werden. Vielfach bekämpfen sich diejenigen Gemeinden, die einem neuen Bezirk zugewiesen werden sollen; jeder der größeren Orte will Sitz des Amtsgerichts werden. Die Schwierig⸗ keiten, die sich dabei ergeben, sind gar nicht so leicht zu heben;

außerdem ergibt sich für den Staat eine gani erhebliche Mehr⸗